Selenskyj: Gebietsabtretungen nur mit Erlaubnis des Volkes
Bei der Frage nach möglichen Gebietsabtretungen an Russland, verweist Selenskyj auf die geltende Verfassung: Es wäre ein Referendum nötig.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj will auf Gebietsabtretungen im Zuge einer möglichen Friedenslösung mit Russland nicht eingehen, ohne dass das Volk dem zustimmt. «Sie müssen verstehen, dass jede Frage, die die territoriale Integrität der Ukraine betrifft, nicht von einem Präsidenten, einer einzigen Person oder von allen Präsidenten der Welt ohne das ukrainische Volk gelöst werden kann», sagte Selenskyj der Zeitung «Le Monde» und anderen französischen Medien in einem Interview.
Niemand habe der Ukraine bislang offiziell etwas angeboten. «Und die Ukraine wird niemals auf ihre Gebiete verzichten. Die Machthaber haben offiziell nicht das Recht, auf ihre Gebiete zu verzichten. Dazu muss das ukrainische Volk dies wünschen», sagte Selenskyj.
Verfassung schreibt Referendum vor
Ausserdem sei zu bedenken, dass Russlands Präsident Wladimir Putin solch einen Schritt als Sieg sehen würde. «Deshalb ist diese Frage sehr, sehr, sehr schwierig.»
Artikel 73 der Verfassung der Ukraine lässt Gebietsveränderungen nur nach einem landesweiten Referendum zu. Im Verfassungsartikel 133 sind zudem alle Gebiete einschliesslich der von Russland beanspruchten Halbinsel Krim mit der Stadt Sewastopol und die Regionen Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja aufgezählt. Für Verfassungsänderungen ist ausserdem eine Zweidrittelmehrheit im Parlament notwendig.
Selenskyj will Russland am Verhandlungstisch
Bei künftigen Friedensberatungen sollte Russland mit am Tisch sitzen, sagte der ukrainische Präsident. «Ich bin – wie die meisten Länder – der Ansicht, dass beim zweiten Friedensgipfel im November Vertreter Russlands anwesend sein sollten, da wir sonst keine tragfähigen Ergebnisse erzielen werden. Sie sollen uns nicht bei der Ausarbeitung eines gemeinsamen Plans blockieren.» Wenn alle Russland am Verhandlungstisch sehen wollten, dann könne die Ukraine nicht dagegen sein.
Um den von Russland vor zweieinhalb Jahren begonnenen Angriffskrieg gegen die Ukraine besser abwehren zu können, hofft Selenskyj auf die Erlaubnis, militärische Ziele in Russland mit amerikanischen und europäischen Langstreckenraketen anzugreifen. «Leider haben unsere Partner derzeit noch Angst davor.»
Von China wünscht Selenskyj sich unterdessen gezielten Druck auf Moskau. «Ich wünschte, es würde Druck auf Russland ausüben, um diesen Krieg zu beenden. So wie die USA Druck ausüben. So wie die Europäische Union Druck ausübt.»
Lob für ukrainische Flugabwehr
Der Flugabwehr seines Landes zollte Selenskyj grosses Lob. «Allein vergangene Nacht haben sie fast 90 ‹Shaheds› (Kamikaze-Drohnen) abgeschossen, das ist ein beachtliches Ergebnis», sagte er in seiner abendlichen Videoansprache. Dennoch müsse die Flugabwehr ausgebaut werden.
«Und wenn wir jetzt ein so bedeutendes Ergebnis bei der Verteidigung gegen die ‹Shaheds› erzielen können, dann ist das ein klarer Beweis dafür, dass wir bei der Verteidigung gegen Raketen und bei der Verteidigung gegen russische Militärflugzeuge stärker sein können.»
Dies wiederum hänge von den verfügbaren Waffen ab. «Wir brauchen zuverlässige Luftabwehrsysteme, wir brauchen eine ausreichende Reichweite unserer Waffen», sagte Selenskyj. Damit forderte er sowohl weitere Flugabwehr-Systeme als auch die Erlaubnis der westlichen Partner, die von ihnen gelieferten schweren Waffen wie Raketen und Marschflugkörper gegen Ziele wie Militärflughäfen auf russischem Staatsgebiet einzusetzen. «Der russische Terror muss jedes Mal gestoppt werden, wenn der Besatzer versucht, das Leben in der Ukraine zu zerstören.»
Russische Truppen setzen Ostukraine unter Druck
Derweil erhöhen die russischen Truppen im Osten der Ukraine den Druck auf die Verteidiger. Wie der Generalstab in Kiew in seinem täglichen Lagebericht mitteilte, wurden die ukrainischen Stellungen bei Torezk und Pokrowsk wiederholt beschossen, während feindliche Soldaten den Durchbruch versuchten, aber erfolgreich abgewehrt wurden. Die russischen Militärs haben schon seit einiger Zeit einen Schwerpunkt an diesem Frontabschnitt im Donbass gesetzt, um die ukrainischen Linien zu durchstossen und die dahinter liegenden wichtigen Versorgungslinien zu erobern.
Die russische Armee führt seit bald zweieinhalb Jahren einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die bisher besetzten Gebiete wurden bereits einseitig ins russische Staatsgebiet integriert, allerdings kontrolliert Moskau nicht alle Teile der annektierten Regionen.
Spekulationen über Eintreffen von F-16 in der Ukraine
In der Ukraine wird Medienberichten zufolge derweil darüber spekuliert, dass die ersten Kampfjets des amerikanischen Typs F-16 bereits dort eingetroffen sein könnten. Allerdings blieb eine offizielle Bestätigung aus Kiew bislang aus.
Auch die Verteidigungsministerien in den Niederlanden und Dänemark, deren Regierungen sich bereit erklärt hatten, der Ukraine die Jets zur Verfügung zu stellen, wollten sich vorerst nicht offiziell äussern. Ukrainische Piloten waren in den vergangenen Monaten in beiden Ländern an den Maschinen ausgebildet worden.
Lieferung beim Nato-Gipfel bekräftigt
Auch die US-Regierung, die selbst keine F-16 an die Ukraine liefert, wollte sich nicht äussern und verwies auf die Zuständigkeit Kiews. Beim Nato-Gipfel sei bekräftigt worden, dass der Prozess der Lieferung der F-16 voranschreite, sagte John Kirby, der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrates in den USA. «Wir sagten, dass sie bis Ende des Sommers einsatzbereit sind, und wir haben keinen Grund, dies anzuzweifeln.»
Neben Dänemark und den Niederlanden haben auch Belgien und Norwegen dem ukrainischen Militär Kampfflugzeuge vom Typ F-16 zugesagt. Insgesamt soll Kiew knapp 60 Maschinen erhalten.