Selenskyj sieht Ukraine auf Weg in die Nato – Kreml warnt
Kiew kann auf mehr Unterstützung der Nato-Staaten im Kampf gegen den russischen Angriffskrieg setzen. Moskau warnt jedoch vor einem neuen Kalten Krieg.
Die Ukraine sieht sich nach dem Nato-Gipfel in Washington für ihren Kampf gegen den russischen Angriffskrieg gestärkt. Bis das Land dem Militärbündnis beitrete, setze die Ukraine auf Sicherheitsabkommen mit Nato-Staaten, teilte Präsident Wolodymyr Selenskyj in Washington nach dem Gipfel sowie nach Gesprächen unter anderem mit US-Präsident Joe Biden mit. Die Ukraine werde weiter Fortschritte machen bei der Entwicklung ihrer eigenen Sicherheitsarchitektur.
Die Staats- und Regierungschefs der 32 Nato-Staaten sagten der Ukraine zum Abschluss ihres Gipfeltreffens Unterstützung bis zum Sieg gegen Russland zu. Das Bündnis sei entschlossen, die Ukraine beim Aufbau einer Streitmacht zu unterstützen, die in der Lage sei, die russische Aggression zu beenden, heisst es in einer nach einem Treffen mit Selenskyj veröffentlichten Erklärung. Der Kampf der Ukraine für ihre Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität trage direkt zur euro-atlantischen Sicherheit bei. Die Unterstützung der Nato werde so lange wie nötig erfolgen.
In der Erklärung werden noch einmal die Beschlüsse des Nato-Gipfels zur Stärkung der Ukraine hervorgehoben. Mit ihnen versprechen die Bündnisstaaten, innerhalb des nächsten Jahres erneut Militärhilfen im Wert von 40 Milliarden Euro zu leisten. Auch wird der Ukraine zugesichert, dass sie auf ihrem Weg in das Verteidigungsbündnis nicht mehr aufgehalten werden kann. Beides soll auch dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zeigen, dass er nicht darauf setzen sollte, dass die Nato bei der Unterstützung der Ukraine irgendwann einmal müde wird.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bezeichnete den Gipfel in seiner Abschlusspressekonferenz als einen «Wendepunkt». Die Ukraine habe einen schwierigen Winter und Frühling erlebt, weil Verzögerungen und Lücken bei Waffen- und Munitionslieferungen Folgen auf dem Schlachtfeld gehabt hätte. «Wir werden nicht zulassen, dass sich das wiederholt», sagte er.
Ukraine will Freigabe westlicher Waffen für Beschuss von Russland
Bei einer Pressekonferenz mit Stoltenberg forderte Selenskyj einmal mehr die Aufhebung aller Auflagen für den Einsatz westlicher Waffen gegen russisches Staatsgebiet. «Wenn wir siegen und unser Land bewahren wollen, dann müssen all diese Einschränkungen aufgehoben werden», betonte er. Es gehe dabei vor allem um Militärstützpunkte im russischen Hinterland, von denen Raketenangriffe wie am Montag auf die Hauptstadt Kiew ausgehen. «Wenn sie uns angegriffen und unsere Kinder getötet haben, ist es verrückt zu fragen, warum wir diese Militärbasis nicht angreifen dürfen», sagte Selenskyj.
Die Ukraine verteidigt sich mit massiver westlicher Unterstützung gegen die russische Invasion. Mehrere Verbündete haben Kiew Raketen und Marschflugkörper mit höheren Reichweiten geliefert, aber deren Einsatzgebiet auf an die Ukraine grenzende russische Gebiete begrenzt.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) lehnte die Forderung Selenskyjs nach einer Aufhebung aller Auflagen für den Einsatz westlicher Waffen gegen russisches Territorium indes zurück. «Niemand hat eine Veränderung der bisherigen Massgaben und Richtlinien vor – aus gutem Grund», sagte Scholz zum Abschluss des Nato-Gipfels in Washington. «Es bleibt ja immer auch unsere Aufgabe sicherzustellen, dass wir die Ukraine maximal unterstützen, aber eine Eskalation des Krieges zu einem Krieg zwischen Russland und der Nato verhindern. Und das erfordert Weisheit, Klarheit und Festigkeit.»
USA stellen Ukraine weitere Militärhilfe zur Verfügung
Die USA stellen der Ukraine zur Abwehr des russischen Angriffskriegs unterdessen weitere Militärhilfe zur Verfügung. Das neue Paket mit einem Umfang von 225 Millionen US-Dollar (rund 207 Millionen Euro) enthalte unter anderem das bereits von den USA angekündigte Patriot-Luftabwehrsystem, zudem Flugabwehrraketen des Nasams-Systems, Mehrfachraketenwerfer vom Typ Himars sowie Artilleriemunition mit den Kalibern 155 und 105 Millimeter, teilte die US-Regierung mit. Die Waffen stammen den Angaben zufolge aus Beständen des US-Militärs.
Kurz vor der Ankündigung hatten sich US-Präsident Biden und Selenskyj am Rande des Nato-Gipfels zu einem Gespräch getroffen. Die USA und weitere Nato-Staaten hatten der Ukraine bereits zum Beginn des Gipfels umfangreiche Ausrüstung zur Abwehr russischer Luftangriffe versprochen. Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs haben die USA nach Pentagon-Angaben militärische Hilfe in Höhe von mehr als 53,7 Milliarden US-Dollar (rund 49,4 Milliarden Euro) für Kiew bereitgestellt.
Bundesregierung: US-Waffen in Deutschland nötig
Kanzler, Vizekanzler und Verteidigungsminister der Ampel-Regierung sind sich einig: Die am Rande des Gipfels angekündigte Stationierung weitreichender US-Waffen in Deutschland ist ein wirksamer Beitrag zur Abschreckung einer russischen Aggression. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) sagte beim Nato-Gipfel in Washington dem ZDF-«heute journal»: «Wir haben eine neue Bedrohungslage. Wladimir Putin hat gezeigt, wozu er bereit und in der Lage ist.»
Den ARD-«Tagesthemen» sagte der Minister, von einem neuen Wettrüsten könne keine Rede sein. «Russland hat diese Waffensysteme schon seit längerem unter anderem – wie wir vermuten – in Kaliningrad stationiert, das heisst in absoluter Reichweite zu Deutschland und anderen europäischen Nationen.»
Die USA wollen in Deutschland zum Schutz Europas aufrüsten. Bundeskanzler Scholz und sein Vize Robert Habeck (Grüne) sehen darin eine Notwendigkeit. «Wir wissen, dass es eine unglaubliche Aufrüstung in Russland gegeben hat, mit Waffen, die europäisches Territorium bedrohen», sagte Scholz in Washington. Habeck sagte, die russische Aufrüstung bedrohe «offensichtlich auch die Nato-Ostflanke». «Russland ist also kein Friedenspartner im Moment», sagte er der Zeitung «Neue Westfälische» (Freitagsausgabe).
Moskau ist etwa 1600 Kilometer Luftlinie von Berlin entfernt. Von 2026 an sollen Marschflugkörper vom Typ Tomahawk mit einer Reichweite von bis zu 2500 Kilometern, Flugabwehrraketen vom Typ SM-6 und neu entwickelte Überschallwaffen für einen besseren Schutz der Nato-Verbündeten in Europa sorgen.
Kreml kritisiert Pläne für US-Waffen in Deutschland
Russland reagierte mit Warnungen und Drohungen auf die geplante Stationierung von US-Waffen in Deutschland. «Wir sind auf dem besten Weg zu einem Kalten Krieg. Das alles gab es schon einmal», sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow dem russischen Staatsfernsehen. Er warf Deutschland, den USA, Frankreich und Grossbritannien vor, direkt in den Konflikt um die Ukraine verwickelt zu sein.
«Das alles wird mit dem Ziel unternommen, unser Land zu unterminieren. Das wird alles getan, um unsere strategische Niederlage auf dem Schlachtfeld zu garantieren», betonte Peskow. Russland müsse das alles in den Blick nehmen. «Das ist kein Grund für Pessimismus. Im Gegenteil: Das ist Anlass, sich zusammenzunehmen und unser ganzes reiches Potenzial zu nutzen, das wir haben, um alle Ziele zu erfüllen, die wir uns im Zuge der speziellen Militäroperation vorgenommen haben.»
Gemeint ist der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, mit dem Moskau unter anderem eine Nato-Mitgliedschaft Kiews verhindern will. Zuvor hatten auch russische Diplomaten mit einer Gegenreaktion Russlands gedroht und vor einem neuen Wettrüsten gewarnt.