Waschzwang in der Corona-Krise: «Endlich sind alle wie ich»
Was vor der Corona-Krise als zwanghaft angesehen wurde ist nun normal. Experten rechnen aufgrund der Pandemie mit einer Zunahme an Zwangserkrankten.
Das Wichtigste in Kürze
- Der 20-Jährige Jonas leidet an einer Zwangsstörung.
- Aufgrund der Corona-Pandemie rechnen Experten mit einer Zunahme an Zwangserkrankten.
- Auch andere psychische Erkrankungen könnten sich während der Corona-Zeit verschlechtern.
Ausgiebiges Händewaschen, Abstand wahren: Was vor der Corona-Krise teils als zwanghaft angesehen wurde, ist nun Status quo. Experten befürchten eine Zunahme an Zwangserkrankten. Der 20-jährige Jonas ist seit Februar in einer Klinik. Er macht Fortschritte, doch dann kommt Corona dazwischen.
60 Mal am Tag
In der schlimmsten Phase seiner Erkrankung wäscht Jonas 60 Mal am Tag die Hände. So lange bis auf dem Handrücken blutige Furchen zurückbleiben.
Nach dem Einkauf reinigt er minutenlang alle Lebensmittel. Wer weiss schon, wer das alles angefasst hat, sagt er sich. Jonas, dessen richtiger Name eigentlich anders lautet, hat ein Problem.
Er gehört zu zwei Prozent der deutschen Bevölkerung, die eine Zwangserkrankung haben. Langfristig werden wegen der Corona-Pandemie mehr Patienten an Zwangsstörungen – vor allem Waschzwängen – erkranken. Das prognostiziert der Psychiatrie-Facharzt Andreas Wahl-Kordon.
Durch die hohe Präsenz der Pandemie in den Medien bekämen viele Angst. Auch Personen, die sonst nichts mit Zwang und «Kontaminationsbefürchtung» zu tun hätten.
Die derzeitige Lage treffe aber auch auf einen «guten Nährboden» bei Menschen mit bestehenden Zwangserkrankungen. Das berichtet Wahl-Kordon, der Direktor der Oberberg Fachklinik Schwarzwald.
Mögliche Auslöser von Zwangsstörungen
In seiner Jugend wird Jonas gehänselt, wechselt oft die Schule und zieht sich zurück. 2011 stirbt Jonas' Vater an einem Herzinfarkt. «Da hat es angefangen», sagt er. Der damals Elfjährige achtet genau auf seinen Herzschlag.
Ergeht es ihm ähnlich wie seinem Vater? Bei Brustschmerzen geht er zum Arzt. Bei einem Knacken im Nacken denkt er an einen Genickbruch und fährt nachts ins Krankenhaus.
Laut Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, sind Zwangserkrankungen wie in Jonas' Fall häufig mit einem Schicksalsschlag verbunden. «Stress und schwerwiegende Lebensereignisse, wie der Tod oder eine schwere Erkrankung von Angehörigen können eine Rolle spielen.» Aber auch familiäre Konflikte können Zwänge auslösen. Zwangsgedanken, aus denen später Zwangshandlungen entstehen können, basieren laut Wahl-Kordon auch auf genetischer Veranlagung.
Wann spricht man von einer Zwangserkrankung?
Jonas denkt bald, dass er Tollwut haben könnte. Er liest im Internet von der Virusinfektion, die meistens durch Tierbisse auf Menschen übertragen wird. Eigentlich findet er immer wieder Hinweise, dass die Krankheit in Europa weitestgehend ausgerottet sei, doch er fühlt sich zunehmend bedrohter.
Die Ansteckungen liegen zwar im Promillebereich. Für ihn fühle es sich nach den nächtlichen Recherchen im Internet aber wie eine zehnprozentige Wahrscheinlichkeit an. Er geht fortan nicht mehr in den Wald, weil er befürchtet, sich dort zu infizieren.
Zwangserkrankungen beginnen meistens in der Jugend, wie Psychiatrie-Facharzt Wahl-Kordon sagt. Wer kurz vor dem Verlassen des Hauses nachsieht, ob der Herd wirklich ausgeschaltet ist, sei nicht erkrankt, sagt er. Die Zwangshandlung müsse täglich vorkommen und insgesamt etwa eine Stunde andauern, um von einer Erkrankung zu sprechen.
So lange der Leidensdruck nicht hoch ist und man keine Termine durch übermässiges Händewaschen verpasst, sei es unproblematisch, meint Wolf Hartmann. Wolf Hartmann ist Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen (DGZ).
Er führt das Beispiel eines Studenten in den USA an, der bei einem Tagestrip nach Mexiko schlechte hygienische Verhältnisse erlebt. Mit Ekel fährt dieser zurück in die USA. In seiner Unterkunft erlebt er das Duschen als Wohltat nach einer Belastung und entwickelt später einen Zwang.
Bei 90 Prozent der Patienten mit Zwangsstörung hat ein Elternteil selbst eine Form von Angsterkrankung, sagt Psychologe Oliviero Lombardi. «Den Erkrankten muss klar gemacht werden, dass die Angst nicht von draussen kommt, sondern von ihnen selbst», sagt er.
Nun benehmen sich alle gleich
Die Bekannten, die von Jonas Krankheitsängsten wissen, stempeln ihn ab. Stell dich nicht an, sagen sie ihm. Ihm wird bewusst, dass sein Verhalten ihn immer mehr im Alltag einschränkt. Jonas denkt über Selbstmord nach, bevor er sich im Februar für eine Therapie entscheidet.
Die aktuelle Corona-Pandemie macht Jonas zusätzlich zu schaffen. Er ist noch etwas vorsichtiger als zuvor. Um Kontakt mit anderen zu vermeiden wechselt er die Strassenseite. Beim Geld abheben benutzt er Handschuhe.
Jonas hat Angst, dass seine Therapie-Fortschritte in der Corona-Welt mit Abstandsregeln und Maskenpflicht wieder zunichte gemacht werden.
Jonas fürchtet sich vor dem Virus, doch empfindet auch Erleichterung: «Jetzt benimmt sich jeder so, wie ich mich ohne Corona schon vorher verhalten habe.» In der Praxis von Psychologe Lombardi war erst kürzlich eine Klientin, die ihm sagte, wie herrlich es doch sei: «Endlich sind alle wie ich. Noch nie habe ich mich so gut gefühlt wie jetzt.»
Psychologe Lombardi rechnet mit neuen Patienten nach der Pandemie - aber erst wenn die reale Gefahr vorüber sei. Viele seiner Patienten hätten keine grösseren Ängste wegen Corona, weil die Gefahr zu konkret sei. Oft dächten sie an Krankheiten, die abstrakter sind.
Corona-Pandemie löst Zwangsstörungen aus
«Wenn die Krise vorbei ist, dann werden sicherlich eine ganze Menge übrig bleiben, bei denen sich eine Zwangsstörung bildet», so Hartmann.
Die Bundespsychotherapeutenkammer hält eine Zunahme an Patienten mit Zwangserkrankungen in der aktuellen Situation für realistisch. Ganz sicher liesse sich das noch nicht sagen. Zwangsgedanken bei bereits erkrankten Menschen könnten sich durch Corona verschlimmern. Psychische Erkrankungen wie Depressionen könnten sich auch verschlechtern oder Patienten erkranken neu daran.
Jonas lernt in Therapien verschiedene Techniken. Nebst der Therapie nimmt er Antidepressiva ein. Was für andere das Laufen auf glühenden Kohlen ist, bedeutet für ihn, mit der Hand die Türklinke und dann sein Gesicht zu berühren. Um die Angst vor der Tollwut loszuwerden, streift er durch Unterholz im Wald und fasst in Erdlöcher.
So werde es jedoch besser: «Wenn ich das durchgestanden habe, dann ist das ein schönes Gefühl. Wie als würde eine Last von einem fallen.» In der Zukunft will er sein Fachabitur im Gesundheitswesen machen.
Das Händewaschen ist schon weniger geworden. Für ihn ist das ein Erfolg: Jetzt wäscht er sich nur noch 10 bis 15 Mal am Tag die Hände.