Leitet Israel erste Annexionsschritte im Westjordanland ein?
Mitten in der Corona-Krise könnte Israels Ministerpräsident Netanjahu mit der Annexion des Westjordanlands beginnen. Erste Schritte zeichnen sich ab.
Das Wichtigste in Kürze
- Beginnt Israel heute mit der Annexion des Westjordanlands?
- Ministerpräsident Netanjahu sieht während in der Krise eine «historische Möglichkeit».
- Das Coronavirus spielt ihm in die Karten, während die Zeit drängt.
Mitten in der Corona-Krise könnte Ministerpräsident Netanjahu die aus seiner Sicht «historische Möglichkeit» nutzen. Für ihn drängt die Zeit. Doch es gibt Zwist und eindringliche Warnungen. Israel könnte heute mit der Umsetzung von umstrittenen Annexionsschritten im besetzten Westjordanland beginnen.
Mit Spannung wurde erwartet, ob die Regierung in Jerusalem tatsächlich bereits an dem im Koalitionsvertrag genannten Stichtag 1. Juli Massnahmen einleiten wird.
Wird sich Israel ein Drittel des Westjordanlands einverleiben?
Regierungschef Benjamin Netanjahu sagte am Dienstag nach einem Treffen mit den US-Vertretern habe er «über die Frage der Souveränität gesprochen». An dieser werde man in den nächsten Tagen auch arbeiten, so Netanjahu.
Innerhalb der Regierungskoalition hatte es zuletzt Unstimmigkeiten über das weitere Vorgehen gegeben, auch die abschliessende Zustimmung der US-Regierung fehlt noch.
Als Grundlage dafür nimmt Israels Regierung einen Plan von US-Präsident Donald Trump. Dieser sieht vor, dass Israel sich rund 30 Prozent des 1967 im Sechstagekrieg eroberten Westjordanlands einverleiben kann.
Die restlichen 70 Prozent sollen Teil eines Palästinenserstaates werden, allerdings unter strengen Auflagen. Die Palästinenser lehnen den Plan entschieden ab, aus ihrer Sicht wird Israel bevorzugt. Auch international ist der Plan höchst umstritten.
Viele Beobachter sorgen sich, dass einseitige Schritten Israels Gewalt bis hin zu einem neuen Palästinenseraufstand nach sich ziehen könnten. Militante Palästinenser haben bereits gedroht, eine Annexionsentscheidung als Kriegserklärung zu werten. Im Gazastreifen haben Extremisten am Mittwoch zu einem «Tag des Zorns» aufgerufen.
Annexion als Teil des politischen Vermächtnisses Netanjahus
Auch eine Destabilisierung der Region, insbesondere Jordaniens, wird befürchtet. In dem Land leben Millionen Palästinenser. Sanktionen gegen Israel werden erwogen, auch innerhalb der Europäischen Union. Die EU ist der wichtigste Handelspartner Israels.
Im Koalitionsvertrag zwischen der rechtskonservativen Likud-Partei von Ministerpräsident Netanjahu und dem Mitte-Bündnis Blau-Weiss von Verteidigungsminister Benny Gantz war der 1. Juli als Stichtag genannt worden.
Von dem Datum an könnten erste Schritte für eine Annexion eingeleitet werden, hiess es darin. Zuletzt hatte Gantz sich jedoch zunehmend von dem Vorhaben distanziert.
Am Montag sagte er, der 1. Juli sei «kein heiliges Datum». Der Kampf gegen das Coronavirus hat aus seiner Sicht derzeit Vorrang.
Für Netanjahu hingegen schliesst sich ein Zeitfenster. Experten meinen, der 70-Jährige sehe die Annexion als Teil seines politischen Vermächtnisses. Und im November ist in den USA Präsidentenwahl.
Trumps designierter Herausforderer Joe Biden lag zuletzt in Umfragen vorn - er lehnt eine Annexion ab. Druck hat Netanjahu aber auch wegen des gegen ihn laufenden Korruptionsprozesses, der ihn sein Amt kosten könnte.
Dringlicher Aufruf an die israelische Regierung
Sollte Israel Annexionsschritte ankündigen, brächte dies die deutsche Bundesregierung in eine unangenehme Situation. Neben der EU-Ratspräsidentschaft übernimmt sie am Mittwoch auch den Vorsitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.
Der Bundestag wird die geplante Annexion voraussichtlich am Mittwoch auf Antrag von Union und SPD als völkerrechtswidrig kritisieren. Die israelische Regierung wird «dringlich» dazu aufgefordert, die Pläne fallenzulassen. Andernfalls seien «erhebliche Auswirkungen auf den Friedensprozess des Nahen Ostens und die regionale Stabilität» zu befürchten.