Russland auf Anklagebank: Prozess um MH17-Abschuss beginnt
Flug MH17 ist auf dem Weg nach Kuala Lumpur. Da trifft eine Rakete ins Cockpit. Die Maschine stürzt ab. 298 Menschen sterben. Mitten im Kriegsgebiet der Ostukraine. Nun startet der Prozess, und auf der Anklagebank sitzt auch Russland.
Das Wichtigste in Kürze
- Unnahbar wie eine Festung wirkt das Hochsicherheitsgericht der Niederlande am Amsterdamer Flughafen.
Ein weisser Kastenbau umgeben von kahlen Rasenflächen. Oben dröhnen die Flugzeugmotoren, es riecht nach Kerosin.
An diesem Ort soll von diesem Montag an ein Schritt zur Gerechtigkeit getan werden - für die Opfer des Abschusses der Boeing mit der Flugnummer MH17. Seit fast sechs Jahren hoffen die Angehörigen auf Antworten: Wer ist schuld am Tod der 298 Menschen an Bord des Flugzeuges der Malaysia Airlines?
«Wir brauchen endlich Klarheit», sagt Piet Ploeg, Sprecher der Interessensvertretung der Hinterbliebenen «Stiftung Flugzeugkatastrophe MH17». Ploeg hatte bei der Katastrophe seinen Bruder, seine Schwägerin und seinen Neffen verloren. «Wir wollen wissen, wer dafür verantwortlich ist.»
Dies ist kein gewöhnlicher Strafprozess. Nein, das fängt schon damit an, dass die Angeklagten - drei Russen und ein Ukrainer - nicht dabei sein werden. Sie halten sich in Russland auf und werden kaum ausgeliefert werden. Es ist auch ein politisch brisanter Prozess.
Die Katastrophe ereignete sich mitten im blutigen Krieg in der Ostukraine. Im Fadenkreuz der Ermittler stehen nicht nur die pro-russischen Separatisten, sondern auch Russland. Und das verhinderte bislang die rückhaltlose Aufklärung. Nach dem Schock und der Trauer mussten die Angehörigen erleben, dass das Drama von Flug MH17 zum Spielball von Propaganda und politischen Interessen wurde.
Vor knapp sechs Jahren hatte alles nur wenige Hundert Meter vom Gerichtssaal entfernt begonnen. Der 17. Juli 2014 war ein strahlender Sommertag, als die Boeing vom Flughafen Schiphol startete. Ziel Kuala Lumpur. Doch wenige Stunden später stürzte die Maschine über der Ostukraine ab. Getroffen von einer Luftabwehrrakete. Alle 298 Personen an Bord wurden getötet, sie kamen aus zehn Ländern, darunter auch aus Deutschland. Trümmer, Gepäckstücke, Leichenteile lagen verstreut in den blühenden Sonnenblumenfeldern.
Seit 2014 untersucht das Internationale Ermittlungsteam JIT den Fall, mit Experten aus am meisten betroffenen Ländern Australien, Malaysia, der Ukraine, Belgien und den Niederlanden. Da 196 Opfer Niederländer waren, hat das Land auch die Leitung. Hier ist deshalb der Prozess.
Die Ermittler legten bereits eine Fülle von Beweisen und Indizien vor: Daten, Fotos, Videos, Satellitenbilder, Radaraufnahmen und Zeugenaussagen. Und die weisen deutlich auf die prorussischen Rebellen als Täter hin. Vier Männer müssen sich wegen 298-fachen Mordes verantworten.
Der Prominenteste ist der damalige Kommandant der prorussischen Rebellen Igor Girkin, genannt «Strelkow», früherer «Verteidigungsminister» der Separatistenregion Donezk. Er soll als höchster Offizier die Kontakte zur russischen Armee unterhalten haben. Der frühere russische Offizier Sergej Dubinski war 2014 Stellvertreter Girkins und ebenfalls Kontaktperson zu Russland. Oleg Pulatow soll eine führende Rolle im Geheimdienst der selbst ernannten Republik Donezk gespielt haben. Einziger Ukrainer ist Leonid Chartschenko, er soll eine Kampfeinheit in der Region geleitet haben.
Diese vier Männer hätten, so die Anklage, das Luftabwehrsystem vom Typ Buk von der 53. Brigade der russischen Armee bei Kursk besorgt und den Transport über die Grenze geregelt. «Sie können daher auch gemeinsam verantwortlich gemacht werden für den Abschuss von Flug MH17», erklärte die Anklage. Die Beschuldigten weisen das zurück.
Doch auch der russische Staat sitzt mit auf der Anklagebank. Seit Ausbruch des Krieges in der Ostukraine im Frühjahr 2014 unterstützt Moskau die Separatisten nach Kräften. Unter den Waffenlieferungen aus Russland in das Gebiet Donbass soll auch jenes Buk-Abwehrsystem gewesen sein, von dem aus die Rakete auf die MH17 abgeschossen wurde.
Russland weist bis heute jede Verantwortung für die Tragödie zurück - und kritisiert das Verfahren als politische Inszenierung mit bereits jetzt feststehendem Schuldspruch. Der Kreml, das machte Sprecher Dmitri Peskow kurz vor Prozessstart noch einmal deutlich, erkennt weder die bisher vorgelegten Beweise noch die Arbeit der Ermittlungsgruppe JIT an. Vor allem ärgert sich Moskau bis heute, dass keine russischen Ermittler zugelassen wurden zum JIT. Ein «Schmierentheater» sei das, meinte die Sprecherin des Aussenministeriums, Maria Sacharowa, in Moskau.
Immer wieder hatte Russland versucht, die Ergebnisse der Ermittler infrage zu stellen. Einmal war die Rede davon, dass die ukrainischen Streitkräfte die Maschine mit einem eigenen Buk-System selbst abgeschossen hätten. Ein anderes Mal hiess es, dass ein ukrainischer Kampfpilot die Boeing vom Himmel geholt habe. Russische Staatsmedien präsentierten sogar einen Zeugen. Der namentlich genannte Pilot von der ukrainischen Luftwaffe erschoss sich später selbst. Schuld an der Tragödie hat aus russischer Sicht ausschliesslich die Ukraine.
Kremlchef Wladimir Putin warf dem Land nach der Tragödie vor, trotz der Kampfhandlungen und des Abschusses schon anderer Flugzeuge den Luftraum über dem Kriegsgebiet nicht gesperrt zu haben. Die chronisch klamme Ukraine verdiente damals noch mit Überflugrechten dort Geld. Inzwischen umfliegen Passagierjets die Region - obwohl es schon seit Jahren keine Luftschläge mehr gibt.
Die Ermittler wiederum klagten, dass Russland die Zusammenarbeit verweigerte und die Ermittlungen sabotierte. Vor allem für die Angehörigen war das zermürbend. Nun werden alle Beweise von unabhängigen Richtern geprüft. Das ist ein Anfang. Aber ob am Ende jemand zur Verantwortung gezogen wird? Zurzeit scheint das fraglich.