Russland: Soldaten kämpfen «auf Prothesen» bis zum Ende

Seit Herbst 2022 gilt für Soldaten in Russland eine neue Realität: Ihre Verträge sind unbefristet, der Einsatz endet erst mit dem Tod.

Erst mit dem Tod endet der Krieg für die russischen Soldaten. - keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Russische Soldaten können ihren Armee-Einsatz nicht freiwillig beenden.
  • Der körperliche Zustand der Soldaten spielt im Einsatz keine Rolle.
  • Die Zustände an der Front sind katastrophal.

«Kündigen kann man jetzt nur noch, wenn man keine Hände oder Füsse mehr hat. Oder keinen Kopf», berichtet ein Soldat aus Russland gegenüber der «Bereg-Kooperative», einem Zusammenschluss unabhängiger Journalisten.

Der Soldat beschreibt, wie in seiner Einheit ein Dokument zirkulierte, wonach der körperliche Zustand im Einsatz keine Rolle spiele.

Angeblich vom Präsidenten Wladimir Putin unterschrieben. «Sie halten uns das Dokument unter die Nase. Aber es wird uns nie überlassen, damit niemand es tatsächlich lesen kann», schildert er die Situation.

Kämpfen unter schockierenden Bedingungen

Weitere Soldaten berichten von katastrophalen Zuständen in den russischen Reihen. Soldaten würden mit Hepatitis, HIV oder schweren Verletzungen an Kopf und Gliedmassen in den Kampf geschickt.

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Ein Soldat erzählt, ein Bekannter sei an die Front zurückbeordert worden, obwohl ihm durch eine Explosion bereits drei Finger fehlten. Nur eine Woche später verlor derselbe Soldat durch eine weitere Explosion den Grossteil seiner anderen Hand.

«Das macht nichts, er bekommt eine Prothese und wird weiter kämpfen. Solange er nicht komplett wie ein Cyborg auf Prothesen läuft, wird er kämpfen», fasst der Soldat das grausame System zusammen.

Russland mit finanziellen Anreizen als Köder für neue Soldaten

Obwohl eine weitere Mobilisierungswelle bislang ausblieb, scheint der Nachschub für die Front nicht abzureissen. Der Kreml bietet hohe finanzielle Anreize, um die Einsatzbereitschaft aufrechtzuerhalten.

Die Einmalzahlungen in manchen Regionen betragen inzwischen mehrere Millionen Rubel. Eine Million Rubel entspricht fast 9000 Franken.

Das monatliche Einkommen der Vertragssoldaten liegt weit über dem Landesdurchschnitt in Russland. Viele sehen keine andere Möglichkeit, als sich wegen des Geldes für die Front zu verpflichten.

Horror an der Front: «Musste weglaufen»

Ein Soldat namens Andrej berichtet von einem besonders grausamen Einsatz: Gemeinsam mit Kameraden wurde er an die Frontlinie geschickt, um einen verletzten Soldaten zu bergen.

Der Verwundete lag in einem Schützengraben, schrie vor Schmerzen und konnte sich kaum bewegen. «Granatsplitter hatten seine Wirbelsäule und sein Becken zerstört», erinnert sich Andrej.

Beim Versuch, den Verletzten zu bergen, geriet die Gruppe unter Granatenbeschuss. «Alles begann zu explodieren, Rauch stieg auf und wir mussten weglaufen. Jeder schaut nur auf sich», erzählt Andrej.

Er erinnert sich daran, dass er einen Splitter im Arm hatte und den Verwundeten nicht allein bergen konnte. «Er bat mich, bei ihm zu bleiben. Mir kamen die Tränen, aber ich konnte nichts tun und musste weglaufen.» Der Graben, in dem der verletzte Soldat lag, stand bald in Flammen.

Verbrannte Spuren und verschleierte Schicksale

Am folgenden Tag kehrte Andrej zum Ort des Geschehens zurück und fand einen verbrannten Körper. Zwei Wochen später wurde die Leiche geborgen und der Einheit übergeben.

Doch anstatt den Vorfall als tragischen Verlust zu registrieren, beschied der Kommandeur emotionslos: «Fügen wir ihn einfach zu den Vermissten hinzu.» Andrej und seine Kameraden mussten dies mit ihrer Unterschrift bestätigen – obwohl sie den Soldaten hatten sterben sehen.

Die Ereignisse haben Andrej an die Grenze seiner Belastbarkeit gebracht. Das erste Mal sei ihm der Gedanke gekommen, das Militär zu verlassen. Doch die Aussichtslosigkeit dieser Entscheidung in Russland wird für ihn immer wieder zur brutalen Realität.