Familien-Drama im Mordfall Mutlu: Bruder bleibt vorläufig ohne Opferhilfe
Das Basler Appellationsgericht weist ein Gesuch wegen Verjährung ab. Der traumatisierte Bruder des Schwestermörders erwägt nun eine Staatshaftungs-Klage.
Das Wichtigste in Kürze
- Der damals 21-jährige Hakan Mutlu tötete 1999 seine Schwester in Basel.
- Ein Untersuchungsrichter hatte ihn entgegen Empfehlungen zuvor aus der U-Haft entlassen.
- Es habe die gesamte Familie zerstört, sagt sein Bruder und wehrt sich jetzt.
Noch immer wühlt das Tötungsdelikt am Nasenweg in Basel von vor einer Woche auf: Ein 32-jähriger psychisch kranker Mann tötet während eines unbegleiteten Ausgangs mutmasslich eine 75-jährige Frau. Er hatte schon vor zehn Jahren zwei Frauen getötet und eine weitere Person schwer verletzt.
Ganz im Stillen wird am Mittwochmorgen im immer noch verschalten Basler Appellationsgericht unter den Augen weniger Beobachtenden ein Fall verhandelt, der erschreckend verwandte Merkmale aufweist.
Es geht um die Spätfolgen des Mords durch den damals 21-jährigen Hakan Mutlu. Der Drogen- und Medikamentenabhängige sass 1999 wegen Raubüberfällen mit Messereinsatz in Untersuchungshaft. Der damalige Arlesheimer Untersuchungsrichter Andreas Keller entliess ihn aus der U-Haft – entgegen der Empfehlung des Sachbearbeiters und der Gefangenenbetreuer. Mutlu tötete danach mit Messerstichen seine um vier Jahre ältere, in Basel lebende und verheiratete Schwester Gülkan in Anwesenheit ihres fünfjährigen Sohnes.
«Unsere Familie ist zerstört»
25 Jahre später sitzt sein heute 50-jähriger Bruder im zweiten Stock im dunklen Saal des Basler Appellationsgerichts und sagt mit gesenktem Kopf: «Unsere Familie ist zerstört.»
Das Verbrechen des jungen Bruders hat der Migranten-Familie stark zugesetzt: Zwanzig Jahre nach der Bluttat, am 2. März 2019, nahm sich der Mörder in der Haftanstalt Bostadel das Leben. Gut zehn Jahre zuvor war sein Vater an einem Herzinfarkt gestorben. Ein verbliebener Bruder lebt von der IV, die Mutter ist laut Angaben des Rekursführers «nicht mehr ansprechbar».
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Der grosse Bruder Demir (Name geändert), der sich zwei Jahrzehnte mit Berufsarbeit ohne Staatshilfe tapfer über Wasser gehalten hatte, ertrug das Familien-Drama mit Mord und Suizid nicht mehr: Er wurde als Folge einer posttraumatischen Belastungsstörung und Depressionen arbeitsunfähig. Die Invalidenversicherung erklärte ihn im Herbst 2021 zum IV-Fall.
Nun beginnt sich Demir zu wehren: Sein Anwalt Patrick Wagner machte beim Kanton Baselland eine Staatshaftung geltend. Und zwar nimmt er Bezug auf den damaligen Untersuchungsrichter Andreas Keller, der Mutlu in einer liberalen Gefühl-Wallung freigelassen («keine Fremdgefährdung mehr») hatte und damit ursächlich verantwortlich für das kommende Familien-Drama sei.
Bezug auf europäisches Asbest-Urteil
Auch die damals noch existierende Baselbieter Überweisungsbehörde attestierte Keller eine «folgenschwere Fehleinschätzung» der Gefahren einer Freilassung. Baselland verwies Anwalt Wagner an den Kanton Basel-Stadt und sein Opferhilfegesetz, da sich der Mord auf seinem Hoheitsgebiet ereignet hatte.
Zum Fall vor Appellationsgericht ist es gekommen, weil sich das Amt für Sozialbeiträge weigerte, Demir den geforderten Betrag in Höhe von 120'000 Franken auszuzahlen. Grund: die nicht eingehaltene Verjährungsfrist von zwei Jahren.
Demgegenüber machen Demir und sein Rechtsvertreter eine Verjährungsfrist von fünf Jahren geltend. Wagner bezieht sich dabei auf die Rechtsprechung zu den sogenannten «Asbest-Fällen», in denen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gegenüber der Schweiz eine grosszügigere Verjährungspraxis verlangte.
Jetzt Staatshaftungs-Klage gegen Keller?
Darauf bezugnehmend stellt sich Wagner auf den Standpunkt, «dass eine Verwirkungsfrist erst an dem Tag zu laufen beginnen darf, an welchem der Beschwerdeführer einen Erwerbsschaden erlitten hat und dies auch weiss».
Nun folgt auch das Appellationsgericht der Haltung der für Opferhilfe zuständigen Basler Amtsstelle und weist den Rekurs ab. Die europäische Rechtsprechung im Asbest-Fall sei für den vorliegenden Fall nicht massgebend. Der Rekursführer habe die Verwirkungsfrist nicht eingehalten.
Das Dreiergericht unter dem Vorsitz von André Equey lässt in seiner Begründung die Bemerkung fallen, es stehe dem Gericht nicht zu, die damalige Fehleinschätzung von Statthalter Keller zu beurteilten. Zweifel schimmern durch.
Demir und sein Anwalt scheinen diesen Ball aufnehmen zu wollen: Neben einem Gang ans Bundesgericht erwägen sie, gegen Ex-Statthalter Keller und somit den Kanton Baselland eine Staatshaftungs-Klage einzureichen.
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Hinweis: Dieser Artikel wurde zuerst im Basler Newsportal «Onlinereports» publiziert.