Mami fühlte nach Geburt statt Liebe «Ekel» für Baby

Viele Mütter leiden nach der Geburt unter psychischen Problemen. Ein Verein will das Tabu brechen – indem Betroffene über ihre Erfahrungen sprechen.

Tinka litt unter einer postpartalen Depression. Hier zeigt sie das Zimmer in der Mutter-Kind-Abteilung, in dem sie damals betreut wurde. - SRF «Puls»

Das Wichtigste in Kürze

  • 10 bis 20 Prozent der Frauen erkranken nach der Geburt an einer postpartalen Depression.
  • Eine Betroffene erzählt, wie sie deshalb keine Verbindung zu ihrem Baby fühlte – gar Ekel.
  • Aktivistinnen wünschen sich mehr Sensibilisierung unter Fachpersonen.

Die Zeit direkt nach der Geburt ist für die meisten nicht einfach. Das Risiko für psychische Probleme im Wochenbett wird unter anderem durch Rückbildungsschmerzen und hormonelle Veränderungen erhöht.

Einige Mütter trifft es besonders hart. Das geht oft auch mit ambivalenten Gefühlen für das Baby einher.

Der Verein Postpartale Depression (PPD) Schweiz will Tabus brechen und Betroffenen helfen. Dafür packen Mütter aus, die selbst psychische Probleme nach der Geburt hatten. In einer Reportage von SRF-«Puls» sprechen vier Frauen über ihre schwierigen Gedanken und Gefühle.

Eine von ihnen ist Tinka. Sie wird vor zwei Jahren Mami eines Sohns. Als sie ihn zum ersten Mal auf sich trägt, habe sie noch ein gutes Gefühl gehabt, sagt sie.

«Dann bin ich rausgelaufen»

Doch dann kippt es: «Es war nicht einfach keine Verbindung, sondern es war sogar eine Art Ekel ihm gegenüber.» Ein Gefühl, das sie nicht habe annehmen können. «Ich dachte, das geht nicht, dass eine Mutter ihr Kind nicht gerne hat.»

Die Gefühle gehen so weit, dass sie eines Nachts ihr Baby nicht mehr aushält – und sogar flüchten will. «Ich fand, es ist mir echt genug. Dann bin ich rausgelaufen», erinnert sie sich.

Noch bevor sie in einen Bus einsteigt, beschliesst sie, zurückzukehren. Doch für sie ist klar: So kann es nicht weitergehen.

Tinka sucht in der Mutter-Kind-Abteilung des Spitals Affoltern ZH Hilfe und erhält sofort einen Therapieplatz. «Für mich war eigentlich klar, es gibt keine andere Option. Ich muss da sein, damit es besser wird», sagt sie.

«Ich wollte möglichst viel Distanz»

SRF geht mit Tinka zurück in die Mutter-Kind-Abteilung – dort zeigt sie das Zimmer, in dem sie über Wochen wohnte. «Bei mir stand das Bettli sicher in dieser Ecke», sagt sie und schiebt es weit weg vom grossen Bett. «Ich wollte möglichst viel Distanz.»

Die ersten zwei Wochen habe sie nur zurück nach Hause gewollt. Denn sie habe gemerkt: «Ich muss mich ja fast noch mehr um mein Kind kümmern als zu Hause.»

Tinka litt unter einer postpartalen Depression – kein Einzelfall. 10 bis 20 Prozent der Frauen erkranken nach der Geburt daran. Die stellvertretende Leiterin der Mutter-Kind-Abteilung im Spital Affoltern, Rebecca Caflisch, erzählt: «Wir sehen manchmal recht verzweifelte Situationen, weil einfach so lange gewartet wird.»

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In der Einrichtung werden Mütter dabei unterstützt, eine Bindung zu ihrem Kind aufzubauen und erhalten psychologische Betreuung. Das hat auch Tinka geholfen, wie sie sagt: «Ich hatte diesen Schlüsselmoment, als ich ihn anschaute und dachte: Mein Gott, ich liebe meinen Sohn.»

Andrea Borzatta, die Präsidentin des Vereins PPD, betont, dass es an der betroffenen Person liege, sich Hilfe zu suchen. «Idealerweise würde jede Fachperson das Thema ansprechen.» Der Verein fordert, dass Frauen nach der Geburt systematisch auf postpartale Depressionen untersucht werden. Heute geschieht das nur freiwillig.