Michelle Steinbeck über unerledigte Vergangenheit und Gegenwart
Michelle Steinbecks zweiter Roman «Favorita» ist ein packender Krimi, der in die dunklen Ecken von Neapel führt.
In ihrem zweiten Roman «Favorita» richtet die in Basel wohnhafte Michelle Steinbeck mit grosser Kelle an: über 450 Seiten mit einigermassen zwielichtigem Personal, Mord, Entführung und einem Grande Finale. Grossartig untypisch schweizerisch – und nominiert für den Schweizer Buchpreis.
«Favorita» beginnt mit dem Tod der titelgebenden Figur, die auch Magdalena heisst. Deren Ärztin bittet die Erzählerin Fila nach Neapel zu kommen: «Deine Mutter ist gestorben, und sie sagen, es sei wegen der Leber, aber ich kann dir versichern, es war nicht die Leber. (...) Es tut mir leid, deine Mutter wurde getötet.»
Fila kennt die Mutter kaum und begibt sich auf eine doppelte Spurensuche. Sie folgt den Fährten ihrer Mutter und findet schnell Indizien, um den Mord an ihr aufzuklären.
Was auch ein Krimi hätte werden können, wird bei Steinbeck zu einem wilden Italien-Trip. Dieser hat streckenweise Längen, bis Fila auf einen Gedenkstein und einen zweiten Femizid stösst – an der jungen Bäuerin Sisina in den 1940er-Jahren.
Ein gesellschaftskritischer Blick auf die Vergangenheit
«Sie wurde umgebracht und dann ein halbes Jahrhundert durch den Dreck gezogen», hält Fila irgendwann über Sisina fest. Und genau darum geht es Steinbeck: Mit einem gloriosen Figurenarsenal von altem Adel bis zu feministischen Widerstandskämpferinnen stellt sie aus, wer aus welchem Kontext, was genau über einen der beiden Morde weiss oder zu wissen glaubt.
Und vor allem wie sie, was erzählen, spekulieren oder sogar lustvoll dramatisieren. Und wie wenig sich seit den 1940er-Jahren verändert hat.
Insofern ist der Roman «Favorita» deutlich gesellschaftskritischer als Steinbecks Debüt «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch», das 2016 auf der Longlist des Deutschen und der Shortlist des Schweizer Buchpreises stand.
Seither hat die Autorin einen Lyrikband veröffentlicht («Eingesperrte Vögel singen mehr», 2018), diverse Theaterstücke geschrieben, Soziologie und Philosophie studiert sowie mit weiteren Autorinnen das feministische Kollektiv RAUF gegründet. All diese Erfahrungen lesen sich nun mit.
Fantastisches trifft Realität in «Favorita»
Ähnlich wie schon in ihrem ersten Roman, kurz zusammengefasst eine fantastisch surreale Coming-of-Age-Geschichte lässt Steinbeck auch in «Favorita» die Realität immer wieder verschwimmen: «Ich könnte nicht sagen, was Wirklichkeit war, oder Wahn Fantasie Halluzination», fasst Fila kurz vor dem Grande Finale zusammen. So bekommt auch die ermordete Sisina eine Stimme – als Geist, der Fila in verschiedenen Formen begegnet.
Diese Geister erinnern an eine unerledigte Vergangenheit. «Wir haben es nicht verhindert. Wir akzeptieren es, als wäre es ein Naturgesetz, an dem nichts zu ändern ist: Männer töten Frauen.» Dies gilt nicht nur für das Italien der 1940er-Jahre oder für das zeitgenössische neo-faschistische Milieu, das Steinbeck beschreibt, sondern generell.
In der Schweiz wird alle zwei Wochen eine Frau durch ihren Ehemann, Lebensgefährten, Ex-Partner, Bruder oder Sohn getötet. Jede Woche überlebt eine Frau einen versuchten Femizid. Die Dunkelziffer bleibt unbekannt, denn es gibt keine offizielle Stelle, die Femizide aufzeichnet.
In ihrer Fiktion gelingt es Steinbeck – deren Grossmutter tatsächlich Italienerin ist – diesem «Naturgesetz» in einem Grande Finale den Garaus zu machen.