Joachim Meyerhoffs tragikomische Flucht zu seiner Mutter
Wenn man bei der Lektüre eines Buches alle paar Augenblicke fröhlich gluckst; wenn einem der Schreibstil gefällt, weil der Autor mit Sprache umgehen kann und das bis knapp vor die Eitelkeitsgrenze auch gerne zeigt; wenn einem der Erzähler vertraut vorkommt und man erkennt, wie sehr man ihn vermisst hat – dann hat man ein neues Buch von Joachim Meyerhoff vor sich. «Man kann auch in die Höhe fallen» heisst der sechste Band seiner autofiktionalen Reihe.
2007 begann der 1967 in Hamburg geborene Schauspieler seine Reihe «Alle Toten fliegen hoch». Den Anfang machten Erinnerungen an sein Aufwachsen als Sohn eines Psychiatriedirektors, an sein High-School-Jahr in Amerika und seine ersten Schritte als Schauspieler.
Band zwei («Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war») führte 2013 zurück zu seinem Aufwachsen als Sohn des Direktors einer Kinder-und Jugendpsychiatrie in der deutschen Stadt Schleswig. Band drei («Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke») liess 2015 hochkomisch zwei Welten aufeinanderprallen: die Geborgenheit des Enkels bei seinen Grosseltern und seine gleichzeitigen Leiden auf der renommierten Otto-Falckenberg-Schule in München.
«Die Zweisamkeit der Einzelgänger» hiess 2017 Band vier der grossen Meyerhoff-Saga, der sich mit seinen ersten Engagements in Bielefeld und Dortmund befasste. Seinen Schlaganfall, der eine tolle Karriere abrupt infrage stellte, und seine harten Bemühungen, wieder im Leben und auf der Bühne Fuss zu fassen, beschrieb er 2020 in Band fünf, «Hamster im hinteren Stromgebiet».
Eine Tragikomödie mit Slapstick-Elementen
Unglaubliche 2,8 Millionen Exemplare wurden laut Verlagsangaben bisher von der «Alle Toten fliegen hoch»-Reihe verkauft: der Schauspieler als Bestsellerautor.
Und die Reise geht weiter. «Man kann auch in die Höhe fallen» heisst der sechste Band, der ihn ganz unten zeigt. Er ist mit seiner Familie von Wien nach Berlin gezogen, um einen kompletten Neuanfang zu wagen – und ist hier sehr unglücklich. Mit der Stadt und mit sich selbst. Er hadert mit Berlin, wo er nicht heimisch geworden ist. Er nimmt starke körperliche und charakterliche Veränderungen an sich wahr, die ihm zeigen, dass er trotz Wiederherstellung und Reha nicht mehr der Alte ist. Es sind im privaten Bereich Dinge vorgefallen, über die er selbst erschrocken ist.
Der Mittfünfziger flüchtet aufs Land. Zu seiner 86-jährigen Mutter. Die sich vom ersten Augenblick an physisch und psychisch deutlich fitter präsentiert als der «liebe Sohn» (so ihre bevorzugte Anrede).
Was für eine Konstellation! Der erfahrene Schauspieler macht daraus mit souveränen literarischen Mitteln eine Tragikomödie mit Slapstick-Elementen. Es ist die Rückkehr des verlorenen Sohnes ins Paradies – auch ganz buchstäblich, denn die parkähnliche Gartenlandschaft an der Ostsee, die von der agilen, ja geradezu hyperaktiven Dame gepflegt und gehegt wird, ist ein Refugium, in dem die Welt noch in Ordnung zu sein scheint – und dem Sohn alle Chancen gibt, wieder in Ordnung zu kommen.
Rührende Mutter-Sohn-Geschichte
«Man kann auch in die Höhe fallen» ist eine rührende Mutter-Sohn-Geschichte, und in der liebevollen Beschreibung seiner Mutter und der engen emotionalen Beziehung der beiden Menschen läuft Meyerhoff zur Hochform auf. Sogar eine Lesung ihres Sohnes übernimmt sie, als diesem schlecht wird, und begeistert das Publikum.
Der Sohn findet wieder zurück ins Leben und an den Schreibtisch. Er schreibt ein Buch mit dem Titel «Scham und Bühne» und hält dafür seine peinlichsten Theater-Erinnerungen fest. Diese sind lustig, aber konventionell. Auch jener Eklat bei der Geburtstagsfeier des neunjährigen Sohnes, der immer wieder als Auslöser der Flucht des Ehemanns und Familienvaters zurück zur Mutter genannt wird und dessen Verschiebung der Erzählung quasi das Spannungselement des Buches bildet, entpuppt sich schliesslich als deutlich weniger dramatisch.
Die Rückkehr ins Familienleben nach zehnwöchigem Landaufenthalt wird als Vertreibung aus dem Paradies geschildert: Die abenteuerlustige Mutter verliebt sich und unternimmt mit ihrer neuen Liebe eine Marokko-Reise. Danach ist alles anders. Der neue Lebenspartner zieht bei der Mutter ein, der Sohn fühlt sich rasch fehl am Platze und bricht seine Zelte ab.
Die Mutter ist darüber nicht unglücklich. «War so schön, dass du da warst. Mal richtig mit Zeit», beginnt der Schlussdialog des Buches am Strand, bei dem man förmlich den Abspann vorbeiziehen sieht. «Ja.» – «Bist du zufrieden mit dem, was du geschrieben hast?» – «Hm.» – «Glaubst du, es wird ein Buch?» – «Ich weiss es nicht, Mama.» – «Ich würde, ehrlich gesagt, lieber doch nicht drin vorkommen.» – «Na bravo.»