Coronavirus: Impfung des Pflegepersonals könnte Leben retten
Die Impfskepsis ist besonders beim Pflegeheim-Personal gross. Der konkrete Nutzen der Impfung ist schwer abzuschätzen, aber viele Tote liessen sich vermeiden.
Das Wichtigste in Kürze
- Beim Pflegepersonal, vor allem in Pflegeheimen, ist die Impfskepsis gross.
- Ein Vergleich mit der Grippe zeigt den potenziellen Nutzen der Impfung auf.
- Es könnten wohl auch beim Coronavirus Hunderte von Todesfällen vermieden werden.
Nebst Risikogruppen wie Betagten und chronisch Kranken soll prioritär auch das Pflegepersonal geimpft werden. Dort ist traditionell die Impfskepsis gross, was sich jeweils an tiefen Impfraten bei der Grippeimpfung ablesen lässt. Die Argumente sind jeweils ähnlich wie jetzt auch bei der Impfung gegen das Coronavirus. Man trägt ja Maske, das Virus wird eh von Besuchern eingeschleppt, die Angst vor Nebenwirkungen der Impfung.
Kritisiert wird auch, dass der Schutz der Impfung ja nicht 100 Prozent sei und es viele Unklarheiten gebe. Das gilt sowohl bei Corona wie bei Influenza, dem Grippe-Erreger, aber daneben gibt es eben auch Klarheiten.
Den Nutzen der Impfung des Personals in Spitälern und Pflegeheimen eins-zu-eins nachzuweisen ist eine Herkules-Aufgabe. Zudem fehlen beim Coronavirus naturgemäss langjährige Erfahrungswerte – diesbezüglich ist die jährliche Grippe-Plage wiederum ein Vorteil.
Parallelen von Grippe und Coronavirus
Das ist Äpfel mit Birnen verglichen, aber auf konzeptueller Ebene funktioniert der Ansatz. Das Coronavirus ist zwar ansteckender als das Grippevirus, andererseits bremsen die Corona-Massnahmen jetzt die Ausbreitung. Beide Viren werden via Atemwege und Tröpfchen übertragen.
In beiden Fällen soll die Impfung des Personals nicht nur die Angestellten selbst schützen und zu viele Arbeitsausfälle verhindern. Sondern vor allem auch die Patienten, insbesondere Betagte, indirekt davor bewahren, sich anzustecken, das Virus weiterzugeben und daran zu sterben. Gemeinsam ist auch, dass beide Viren fortwährend mutieren, was die Wirkung der Impfung untergräbt.
Im Spital angesteckt – und verstorben
Mit Akribie hat das Universitätsspital Genf (HUG) 2012 versucht nachzuzeichnen, wie sich Patienten mit Grippe anstecken. Studienobjekt war die geriatrische Abteilung – rund 300 Betten auf fünf Stockwerken. Die Patienten waren aus verschiedensten Gründen im Spital: einige mit Verletzungen, mit Alzheimer, oder zur Reha. Die Resultate waren selbst für die Forscher überraschend.
73 Influenza-Fälle wurden erfasst, 62 davon hatten sich nachweislich im Spital selbst angesteckt. Mit genetischen Analysen konnte nachvollzogen werden, wie sich die Viren-Subtypen unter den Patienten ausbreiteten. So kommt die Studie zum Schluss: Spital-interne Ansteckungen verursachten mehr Grippe-Fälle als die wiederholt von aussen eingeschleppten Grippe-Viren.
Bei einem Drittel der Angesteckten löste die Grippe Komplikationen aus wie sekundäre Lungenentzündungen. Sieben Patienten verstarben an diesen Komplikationen. Ein ähnliches Bild zeigte sich 2014: Von 478 Grippefällen am HUG steckte sich ein Drittel erst im Spital an. 45 Patienten starben an der Grippe, darunter 24, die sich erst im Spital angesteckt hatten.
Hunderte Tote, unbeliebte Impfung
Vom Pflegepersonal war nur rund ein Drittel gegen Grippe geimpft. Dabei liegt in der Romandie die Impfquote noch eher höher als in der Deutschschweiz. Professor Didier Pittet, verantwortlicher Chefarzt am HUG, machte 2015 gegenüber der «SonntagsZeitung» eine ungefähre Hochrechnung. Schweizweit würden wohl über 500 Patienten pro Winter an einer Grippe sterben, die sie im Spital aufgelesen haben.
Diese Todesfälle liessen sich auch mit einer höheren Impfquote nicht alle verhindern. Eine britische Meta-Studie hat den Effekt in diesem – laut eigener Einschätzung – «Feld unvollkommener Beweise» versucht abzuschätzen. Vor allem in Institutionen mit älteren Hochrisikopatienten sei der Nutzen der Impfung am deutlichsten. Bei einer Impfquote von 100 Prozent liessen sich dort 60 Prozent der Infektionen bei Patienten verhindern.
Coronavirus ist anders – und doch gleich
Bei der Grippe könnte die Impfung des Pflegepersonals also durchaus einen grossen Unterschied ausmachen. Nicht nur würde die Ansteckungskette unterbrochen, sondern auch hundertfaches Leid vermieden. Wie lässt sich dies aber auf die Impfung gegen das Coronavirus uminterpretieren?
Einerseits schlecht und wissenschaftlich kaum belegbar, andererseits gut, wenn man mit einer groben Abschätzung zufrieden ist. Einerseits ist in Spitälern die Händehygiene und Maskendisziplin heute wohl viel besser als noch 2012. Andererseits war Genf genau in diesen Punkten bereits damals führend: Die WHO hat das HUG Referenzspital für Spitalinfektionen bestimmt.
Die Grippeimpfung ist meist weniger effektiv als die derzeitigen Corona-Impfstoffe. Umgekehrt ist die Sterblichkeitsrate bei einer Covid-Erkrankung höher. Seit sich Ende Dezember über 90 Prozent der Angestellten am Universitätsspital Massachusetts geimpft haben, verzeichnen diese fünfmal weniger Ansteckungen.
Der Effekt bei Schweizer Patienten lässt sich kaum exakt beziffern, «viele» Infektionen – und Todesfälle – liessen sich aber vermeiden. Angesichts von bereits über 7000 Toten allein in der zweiten Welle ist das Potenzial jedenfalls da. An der Grippe sterben in normalen Jahren rund 1500 Personen. Davon, gemäss obiger Hochrechnung, rund ein Drittel dort, wo sie eigentlich gesünder werden wollten.