Lateinamerika in der Krise: Tod durch COVID-19 oder Hunger
Lateinamerika hat sich zu einem Epizentrum der Corona-Pandemie entwickelt. Neben gesundheitlichen Auswirkungen drohen auch gravierende Armut.
Das Wichtigste in Kürze
- Lateinamerika ist stark von der Corona-Pandemie betroffen.
- Soziale Ungerechtigkeit und politische Verharmlosung sind Ursachen für die Situation.
- Brasilien weist nach den USA weltweit am meisten Infektionen auf.
Knapp die Hälfte der täglichen COVID-19-Todesfälle werden derzeit aus Lateinamerika gemeldet. Die Region hat sich in den vergangenen Wochen zu einem Brennpunkt der Corona-Pandemie entwickelt.
Lateinamerika meldet derzeit über 2,5 Millionen bestätigte Fälle. Brasilien weist mit rund 1,8 Millionen Infizierten die höchste Zahl auf. Peru, Mexiko und Chile verzeichnen um die 300´000 Infektionen – Tendenz in allen Ländern steigend.
Die soziale Ungleichheit auf dem Kontinent macht die Pandemie besonders brisant. Lateinamerika ist gemäss dem Weltwirtschaftsforum die Region mit der grössten Schere zwischen Arm und Reich.
In ganz Lateinamerika leben 62 Millionen Menschen in extremer Armut. Die Pandemie bedeutet hier eine doppelte Belastung.
Lebensgrundlage durch Corona-Massnahmen gefährdet
Viele Menschen in Lateinamerika verdienen ihren knappen Lebensunterhalt mit Waren, die sie auf dem Markt verkaufen. Aufgrund der erhöhten Ansteckungsgefahr wurden die meisten Märkte in Lateinamerika jedoch geschlossen. So standen viele Familien praktisch über Nacht ohne Einkommen da.
Doch ohne Auskommen können weder Nahrung, Unterkunft, Medizin noch die Ausbildung für die Kinder bezahlt werden. «Infolgedessen stehen Millionen von Kindern am Rande der Unterernährung», sagt Joao Diniz, Regional Director von World Vision Lateinamerika.
Die meisten Länder Lateinamerikas weisen zudem schwache Volkswirtschaften und Sozialsysteme auf. Ein gleichberechtigter Zugang zu Gesundheitsdiensten ist nicht gewährleistet. Sozialleistungen wie Arbeitslosengelder – für uns selbstverständlich – sind gerade für die Ärmsten, die täglich auf den Märkten ihre Ware anboten, nicht verfügbar.
Brasilien besonders stark betroffen
Von der Pandemie auffallend stark betroffen ist Brasilien. Das Land weist die höchste Anzahl an Corona-Infektionen in Lateinamerika auf. Weltweit zählt nur die USA mehr Fälle. Die tatsächlichen Zahlen dürften aber um einiges höher liegen, da Brasilien nur wenige Tests durchführt.
Die alarmierenden Zahlen sind das Resultat der sozialen Ungerechtigkeit im Land. Martha Yaneth Rodríguez, National Director von World Vision Brasilien, sagt dazu: «Ungleichheit ist der Schlüsselfaktor, warum in Brasilien die Infektionsraten so stark steigen».
Ganz unten in dieser sozialen Struktur befinden sich die Bewohner der Favelas am Rande der grossen städtischen Zentren. Deren Wohnungssituation zeigt sich als weiteren Brandbeschleuniger für die Pandemie.
Etwa 11 Millionen Menschen leben hier in provisorischen Häusern auf engstem Raum ohne Zugang zur Grundversorgung mit Wasser oder Strom. Abstandhalten oder simple Hygienemassnahmen wie Händewaschen ist in den beengten Slums kaum möglich.
Politik redet Corona klein
Ein weiterer Grund für die hohen Infektionsraten in Brasilien ist die politische Verharmlosung.
Bisherige Auswertungen zum Corona-Krisenmanagement zeigen, dass jene Länder bisher am besten die Krise managen, die von Anfang an zügig und konsequent gehandelt haben.
In Brasilien ist das Gegenteil der Fall. Präsident Jair Bolsonaro hat das Virus von Beginn weg kleingeredet und Corona als «Grippchen» bezeichnet. Die Gesundheitsbehörde wird derzeit von einem General ohne medizinischen Hintergrund geleitet.
Der Präsident hat sich anfangs Juli selber mit dem Coronavirus angesteckt. Um zu «beweisen» wie harmlos das Virus sei, zog Bolsonaro bei einer Pressekonferenz seine Maske aus - und handelte sich dadurch eine Anzeige des brasilianischen Journalistenverbandes ein.
Gefahr für indigene Völker: Es droht entweder COVID-19 oder Hunger
Verheerende Folgen der Corona-Pandemie werden zudem für die indigenen Völker in den brasilianischen Amazonasgebieten befürchtet. Sie leben in entlegenen Gebieten ohne ausreichende medizinische Infrastruktur. Krankenhäuser sind weit entfernt.
Die Amazonasregion ist stark vom Coronavirus betroffen. Hier befinden sich 12 der 20 Städte mit der höchsten Infektionsrate sowie die Hälfte der zehn Gemeinden mit den höchsten Sterblichkeitsfällen.
Die Krankenhäuser in Manaus, der Hauptstadt des Bundesstaates Amazonas, sind vollkommen überlastet. Internationale NGOs, wie das Kinderhilfswerk World Vision, und die Kirche unterstützen derweil die lokale Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und Sanitärpaketen. Doch die drohende Armut können diese Hilfsmassnahmen nur bedingt abmildern.
World Vision unterstützt die Bevölkerung in Lateinamerika im Kampf gegen Covid-19
«Die meisten Menschen, die im Amazonasgebiet leben, sind gezwungen, ihre Heimatorte zu verlassen, weil es keine Arbeit mehr gibt», erklärt Joao Diniz, Regional Director für Lateinamerika und die Karibik bei World Vision. «Die Menschen müssen sich derzeit entscheiden, ob sie das Risiko eingehen, an COVID-19 zu sterben, oder ob sie verhungern.»
World Vision bemüht sich in 15 Ländern Lateinamerikas um die Stärkung der Gesundheitsdienste. Die NGO setzt sich für die Umsetzung wirksamer sozialer und wirtschaftlicher Massnahmen zum Schutz der Schwächsten, insbesondere von Millionen von Mädchen und Jungen, ein. Es soll vor allem verhindert werden, dass Kinder zur Arbeit gezwungen werden oder im Kinderhandel enden.