Coronavirus: Darum ist Schwedens Herdenimmunität gescheitert

Alexandra Aregger
Alexandra Aregger

Bern,

Schweden wählte bei der Bekämpfung des Coronavirus einen Sonderweg, über den weltweit gestritten wurde. Nun zeigt sich: Die Herdenimmunität hat nicht geklappt.

Coronavirus Schweden
Chefepidemiologe Anders Tegnell liess dem schwedischen Volk trotz Coronavirus viele Freiheiten. - EPA

Das Wichtigste in Kürze

  • Schweden verzichtete auf einen Lockdown und setzte auf die Herdenimmunität.
  • Der Preis: Die Todeszahlen sind deutlich höher als in den Nachbarstaaten oder der Schweiz.
  • Epidemiologe Marcel Tanner zieht ein Fazit über den schwedischen Sonderweg.

Kein Land erregte mit seiner Corona-Strategie derart Aufsehen wie Schweden. Während rund um die Welt die Ladentüren verschlossen und Strassen leer gefegt wurden, blieb Schweden cool. Kein Lockdown, keine Maskenpflicht, lediglich ein Verbot für Events mit über 50 Personen sprach die Regierung.

Und: Das skandinavische Land strebte eine Herdenimmunität an. Eine Durchseuchung also. Eine Strategie, die Mr. Corona Daniel Koch schon früh abwimmelte, in der Schweiz gar als «unethisch» beschimpft wurde.

Trotzdem fragte sich die Welt: Sind die Schweden verrückt geworden oder stellt sich ihr Sonderweg als genial heraus? Mittlerweile ist klar: Der Plan ist gescheitert.

Schwache Antikörper vernichten Idee der Herdenimmunität

Zunächst schien der Plan, dass sich möglichst viele Schweden – abgesehen von Risikogruppen – mit dem Coronavirus infizierten, aufzugehen. Die Fallzahlen schnellten schon im April, am meisten aber Ende Juni auf einmal in die Höhe. Die Schweiz stufte Schweden als Risikogebiet ein und knallte das Land auf die Quarantäneliste.

Coronavirus Schweden
Die Grafik zeigt die täglichen Neuansteckungen mit dem Coronavirus in Schweden: Besonders hoch waren die Fallzahlen Ende Juni, Anfang Juli. - Johns Hopkins University

Der entscheidende Unterschied aber: Die Todeszahlen waren weit höher als angenommen. Während Schweden rund 5600 Todesfälle infolge des Coronavirus verzeichnet, sind es beim Nachbar Norwegen gerade mal 250, in Finnland 330. Auch in der Schweiz sind es mit rund 1690 Toten deutlich weniger.

«Das Entscheidende, warum sich die Lage zugespitzt hat, ist das fehlende Wissen aller über das Coronavirus», resümiert Marcel Tanner. Der Epidemiologe der Corona-Taskforce des Bundes beobachtet die Entwicklung in Schweden scharf.

Coronavirus Marcel Tanner
Marcel Tanner ist Epidemiologe. - Keystone

«Das Konzept der Herdenimmunität ist an sich ein gutes Konzept», hält Tanner gegenüber Nau.ch fest. «Jedoch nur, wenn nach einer Infektion neutralisierende, das Virus blockende Antikörper gebildet werden können.»

Mittlerweile haben Studien gezeigt, dass vor allem Personen mit schwerer Corona-Erkrankung neutralisierende Antikörper bilden. «Bei leichten Infektionen bilden sich weitgehend kurzlebige und schwache Antikörper», die das Virus kaum bis gar nicht neutralisieren.

Somit sei Schwedens Modell kein falsches, sondern das Coronavirus «das ‹falsche Virus› zur Umsetzung der Strategie der Herdenimmunität».

Schwedens Wirtschaft wegen Coronavirus tiefer gestürzt als erwartet

Das Modell ist also gescheitert. Nicht aber der Weg, für den sich der schwedische Chefepidemiologe Anders Tegnell entschieden hat, betont Tanner. Einerseits hat der vielfach kritisierte Tegnell stets auf die Distanz- und Hygieneregeln gepocht. Wie die Schweiz also.

«Andererseits setzte er auf das Grundvertrauen und die Gemeinschaftsverantwortung der Bevölkerung.» Man beachte die geografische Situation in Schweden: deutlich weniger Ballungszentren, viele abgelegene, wenig besiedelte Gebiete. Mit der Distanz also gut vereinbar.

Sowieso nervt sich Epidemiologe Tanner, sei in der Schweiz oft und gern von der Eigenverantwortung gepredigt worden. «Viel entscheidender wäre eigentlich das Wort Gemeinschaftsverantwortung. Uns geht es in der Schweiz zu gut, daher wollten viele möglichst schnell ihre Selbstverantwortung zurück.» Doch so bewältige man keine Krise.

Da seien uns die Schweden einen Schritt voraus. Nicht aber in der ökonomischen Lage, welche die Schweden wohl deutlich unterschätzt hätten. Obwohl diese durch die lockere Strategie hätte geschützt werden sollen. Gemäss Internationalem Währungsfonds IMF wird Schwedens Wirtschaft um sieben Prozent schrumpfen.

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Der Staatsepidemiologe Anders Tegnell bei einer Pressekonferenz. - dpa

Gemäss der letzten Seco-Prognose geht man in der Schweiz von 6,2 Prozent aus. Glaubt man den Banken, sogar «nur» vier Prozent. Kommt hinzu, dass die staatlichen Massnahmen nicht denselben Umfang haben wie in der Schweiz. Umso langwieriger dürfte der Aufbau in Schweden also sein.

Als Fehler sehen die Schweden ihren Weg nicht, sagt Tanner, der viel im Austausch mit den Kollegen im Norden ist. «Schliesslich nehmen die Fallzahlen wieder ab. Sie sehen jedoch ein, dass das gewünschte Resultat nicht eintritt.»

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