Experte klärt auf: «Frauen doppelt so häufig von Borderline betroffen»
Ein Leben im ständigen emotionalen Chaos? Dr. med. Tobias Freyer hat im Interview die wichtigsten Fakten zur Borderline-Störung parat.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Borderline-Störung ist eine Form der Persönlichkeitsstörung.
- Betroffene haben Probleme mit der Regulation von Gefühlen.
- Sie erleben positive und negative Emotionen stärker als andere Menschen.
Impulsive und extrem emotionale Verhaltensweisen können viele Ursachen haben. Eine Borderline-Störung ist eine davon. «Frauen sind dabei mindestens doppelt so häufig betroffen wie Männer», weiss Dr. med. Tobias Freyer, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie.
Im Interview klärt der Experte über die psychische Erkrankung auf und verrät ausserdem, wie sich Borderline in Paarbeziehungen äussert und wie Betroffene damit umgehen sollten.
Was versteht man unter Borderline?
Dr. med. Tobias Freyer: Bei der Borderline-Störung handelt es sich um eine Form der Persönlichkeitsstörung in Abgrenzung zur gesunden/ungestörten Persönlichkeit und zu anderen Persönlichkeitsstörungen wie z.B. der ängstlich-vermeidenden, der narzisstischen oder der schizoiden Persönlichkeitsstörung.
Der fachlich korrekte Begriff lautet: emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ.
Betroffene haben Probleme mit der Regulation von Gefühlen. Sie erleben positive und negative Emotionen stärker und es dauert wesentlich länger, bis Emotionen bei diesen Menschen abklingen. Dies kann dazu führen, dass Borderliner von ihren Emotionen überflutet werden und unter starke Anspannung geraten.
Was sind typische Symptome bei einer Borderline-Störung?
Freyer: Die emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ (BPS) zeichnet sich durch die oben beschriebenen Schwierigkeiten in der Emotionsregulation aus.
Zusätzlich leiden Menschen mit einer Borderline-Störung häufig unter einer ausgeprägten Instabilität im Selbstbild. Auch ihre zwischenmenschlichen Beziehungen sind durch extrem positive wie negative Empfindungen geprägt.
Sie neigen dazu, andere Menschen und ihre Partner entweder stark zu idealisieren oder abzuwerten, erleben ausgeprägte Ängste vor dem Verlassenwerden.
Sie sind in der Regel impulsiver als gesunde Menschen, erleben Wutausbrüche mit z.B. Zerschlagen von Gegenständen oder zeigen Impulsivität in anderen Bereichen, wie z.B. Geldausgeben, Substanzmissbrauch, Essanfälle oder rücksichtsloses Fahren.
Die hohen Anspannungszustände sind für die Betroffenen sehr unangenehm. Viele Menschen mit BPS lernen diese Zustände durch Selbstverletzung zu beenden, was kurzfristig hilft, langfristig aber sehr schädliche Folgen haben kann.
Typisch sind u.a. Ritzen oder Schneiden. Wichtig ist hierbei, dass die Selbstverletzungen zwar typisch sind, nicht aber zwingende Voraussetzung für die Vergabe der Diagnose Borderline-Störung sein müssen.
Wie viele und welche Menschen leiden am häufigsten darunter?
Feyer: Die Lebenszeitprävalenz, also die Wahrscheinlichkeit im Laufe des Lebens die Diagnosekriterien der Emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ zu erfüllen, liegt für die Gesamtbevölkerung bei etwa drei bis fünf Prozent.
Frauen sind dabei mindestens doppelt so häufig betroffen wie Männer. Der Höhepunkt der Symptomausprägung findet sich in der Regel im jungen Erwachsenenalter (zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr), zeigt sich jedoch häufig schon im Jugend- oder sogar Kindesalter.
Glücklicherweise klingt die Störung bei etwa 80 Prozent der Betroffenen im Laufe des Lebens ab. Besonders häufig sind Opfer von sexuellem Missbrauch in der Kindheit von der Störung betroffen.
Viele Betroffene geben an, sich bereits im Grundschulalter selbst verletzt zu haben.
Unter einer BPS leiden Personen, die von Natur aus schnell mit starken Emotionen reagieren und nicht lernen bzw. gelernt haben, mit ihren starken Emotionen angemessen umzugehen.
Hier hat auch die Umwelt eine wichtige Bedeutung. Besonders ein Umgang mit Kindern und Heranwachsenden, der die Empfindungen der Kinder nicht berücksichtigt oder unterdrückt, wird als wichtiger Faktor bei der Entstehung betrachtet.
Wie äussert sich Borderline in einer Paarbeziehung?
Freyer: Typischerweise leben Betroffene sehr intensive Paarbeziehungen, die häufig durch Streit geprägt sind.
Aufgrund des Gefühls der inneren Leere und der fehlenden eigenen Identität sowie der Angst/der Überempfindlichkeit vor Ablehnung und Zurückweisung suchen die Patienten häufig eine sehr grosse Nähe zu ihren Partnern, verhalten sich anklammernd, sprechen zum noch stärkeren Binden des Partners Suiziddrohungen bei partnerschaftlichen Konflikten aus.
Der Partner wird lange Zeit idealisiert, dann kann es jedoch auch plötzlich zu Beziehungsabbruch kommen.
Welche Auswirkungen kann Borderline in einer Paarbeziehung haben?
Freyer: Aufgrund der oben geschilderten Symptomatik und Problematik sind Paarbeziehungen häufig schwer belastet.
Je nach Persönlichkeit des Partners können sich sehr ungesunde und abhängige Paarbeziehungen oder auch heftige/unschöne Trennungen, On-off Beziehungen etc. daraus ergeben.
Wie sollte der Partner damit umgehen?
Freyer: Hilfreich ist es sicherlich, wenn der Partner sehr ruhig, besonnen und einfühlsam reagiert. Allerdings kann dies eine Behandlung nicht ersetzen.
Wie wird Borderline behandelt?
Freyer: Vorwiegend psychotherapeutisch, nur in schwerwiegenden Fällen oder in Fällen, die mit sogenannter Komorbidität einhergehen (also dem gleichzeitigen Vorliegen einer depressiven Erkrankung, eines ADHS o.ä.) kommen Psychopharmaka wie Antidepressiva, atypische Neuroleptika oder Beruhigungsmittel zum Einsatz.
Die Psychotherapie zielt darauf ab, den Betroffenen ein besseres Verständnis für ihre Problematik zu vermitteln, einen funktionaleren Umgang mit starken Gefühlen und Gefühlsschwankungen zu erlernen sowie Selbstverletzungen und impulsives Verhalten zu reduzieren bzw. ganz abzubauen.
Kann man Borderline vorbeugen?
Freyer: Was Einfluss auf die Entwicklung einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung hat, sollte vermieden werden, spielt sich aber weitgehend bereits in der Kindheit ab und liegt naturgemäss grösstenteils nicht im Einflussbereich der Betroffenen.
Dazu zählen feindseliges Elternverhalten, instabile Beziehungen der eigenen Eltern, sexueller Missbrauch, früher Drogenkonsum, Essstörungen. Frühzeitig therapeutische Hilfe einholen, ist sicherlich der wichtigste Hinweis.