So verändern Schmerzmittel unsere Gesellschaft
Schmerz ertragen, durchstehen und irgendwann überwinden? Den Körper ruhen lassen, bis er wieder fit ist? Nicht mehr nötig. Dagegen haben wir doch Schmerzmittel.
Das Wichtigste in Kürze
- Schmerzmittel dämpfen nicht nur die körperliche, sondern auch die emotionale Wahrnehmung.
- Sie machen uns weniger mitfühlend und belastbar.
- Sich Zeit zum Gesund werden zu nehmen und Schmerz zu ertragen, braucht aber Mut.
Am 6. März 1899 wurde in der Warenzeichenkontrolle des Kaiserlichen Patentamts zu Berlin ein neues Medikament aufgenommen: Aspirin. Es hat die Medizin revolutioniert. Doch mehr noch. Die Acetylsalicylsäure und ihre Nachfolger, wie Ibuprofen oder Paracetamol lindern nicht nur unsere Schmerzen, senken Fieber und verdünnen das Blut. Sie verändern auch unsere Psyche.
Schmerzmittel machen asozial
Forscher aus Kalifornien haben untersucht, ob Schmerzmittel neben dem körperlichen Schmerz auch unser emotionales Empfinden abstumpfen lassen. Die Antwort ist einfach: Ja.
Das mag helfen, wenn man sich kurz nach Einwerfen der Schmerzpille einem emotionalen Trauma stellen muss. Es ist aber einigermassen ungünstig, wenn Mitgefühl und Einfühlungsvermögen gefragt wären. «Nicht nur das Schmerzempfinden, sondern das ganze Empfinden wird beeinflusst. Einerseits fühlt sich alles erträglicher an, andererseits aber auch stumpf. Denn die Wahrnehmungsschwelle wird durch die Schmerzmittel hochgesetzt», erklärt Psychotherapeutin Margarethe Letzel.
Dazu brauche es keine rezeptpflichtigen Mittel, «gefährlich ist auch alles, was frei erhältlich ist», sagt Letzel. «Diese Mittel sogar erst recht, weil man sie selber dosieren kann.» Schmerzpatienten berichten oft, nicht ganz sicher zu sein, ob sie unter Einfluss von Schmerzmitteln alles genauso mitbekommen, wie ohne.
«Im gesellschaftlichen Schraubstock»
Doch der seit über 100 Jahren andauernde Schmerzmittelkonsum verändert nicht nur den einzelnen Menschen in der Zeitspanne, in der die lindernde Wirkung anhält, er verändert langsam auch unsere Gesellschaft.
Kopfschmerzen, Menstruationsbeschwerden, eine Erkältung – dafür muss man keinen Tag mehr zu Hause im Bett bleiben. Da reicht eine der ovalen, weissen Pillen und schon ist der Patient wieder einsatzbereit. «Das hat in der Gesellschaft umso mehr die Erwartung geweckt, dass wir allzeit bereit und leistungsfähig sein können – und auch müssen», so Letzel.
«Dieser gesellschaftliche Schraubstock führt dazu, man die eigenen Befindlichkeiten ignoriert. Und irgendwann verlernen wir, auf den eigenen Körper zu hören und seine Signale richtig zu deuten.» Dann, so die Psychotherapeutin, ist das Burnout nicht mehr weit. «Wenn wir Schmerz mit Medikamenten stillen, ist das, wie wenn man bei einem defekten Auto den Warnblinker ausschaltet. Er blinkt zwar nicht mehr, aber der Schaden bleibt.»
Das wiederum schade nicht nur dem Einzelnen, es schade auch der Wirtschaft, so Letzel: «Jeder vierte Dialysepatient hat seine Niere unter anderem durch zu viel Medikamente geschädigt. Die Kosten dafür sind bestimmt höher, als wenn die Leute sich wieder Zeit zum Genesen nehmen würden.»
Krank sein braucht Mut
Sich gegen die Erwartung der Gesellschaft zu stellen und körperliche Beschwerden ohne allzu viel Hilfsmittel auszukurieren, «braucht Mut», sagt Letzel. Doch viele gehen den Weg des geringsten Widerstandes. Schlucken eine Pille und klemmen sich wieder hinter den Schreibtisch. «Zeit zum Regenerieren einfordern braucht Stärke und Selbstwertgefühl.»
So lernen sie allerdings nicht, eine Unannehmlichkeit auszusitzen, geduldig zu sein und Schmerzen – seien diese nun seelischer oder körperlicher Natur – auszustehen. Mit anderen Worten: Wir werden langsam aber sicher zu Weicheiern.