SCL Tigers: Stéphane Charlin – Der Aufstieg des Selbstoptimierers
2022 galt es für die SCL Tigers als Risiko, Stéphane Charlin zu verpflichten. Im grossen SLAPSHOT-Interview verrät er die Geheimnisse seines famosen Aufstiegs.

Die Skepsis war gross als die SCL Tigers 2022 den Torhüter Stéphane Charlin als Nummer 2 hinter Luca Boltshauser verpflichteten. Der Transfer war eine der letzten Amtshandlungen des Sportchefs Marc Eichmann gewesen, ehe dieser von Pascal Müller abgelöst wurde.
Charlin war bei Servette kaum berücksichtigt worden und stand im Ruf, ein schlampiges Genie zu sein – jedenfalls erhielt er medial dieses Etikett verpasst. Auch im SLAPSHOT Hockey-Guide wurde Charlin abgesprochen, NL-Format zu besitzen, jedenfalls im damaligen Moment.
Wie man sich täuschen kann… Unter der Anleitung der Torhütertrainer William Rahm und Viktor Alm hat sich Charlin zum statistisch besten Goalie der Liga entwickelt.

Er spielte in dieser Saison teilweise wie von einem anderen Stern, im Februar lag seine Fangquote nach 34 Einsätzen noch immer bei fast 95 Prozent, es ist ein absoluter Fabelwert.
Vermag der 24-jährige Genfer diese Verfassung auch nur annähernd zu konservieren, hat er intakte Chancen, in der Nationalmannschaft in die Fussstapfen der alternden Torhüterlegenden Leonardo Genoni und Reto Berra zu treten.
Daran ändert auch die Anfang Februar beim Auswärtsspiel in Lugano erlittene Knieverletzung nichts, die Charlin für sechs bis acht Wochen ausser Gefecht setzt. Langnau hingegen könnte die Blessur die Playoffs kosten – Charlin war der mit Abstand wichtigste Individualist in diesem Kader.
Eigentlich ist es erstaunlich, dass seine Wirbelsäule noch intakt ist, so aufopferungsvoll wie er dieses Team den ganzen Winter über auf seinen Schultern getragen hat.
SLAPSHOT: Stéphane Charlin, es heisst, Sie hätten zum Eishockey gefunden, weil Sie in Genf das Hallenbad besucht haben und dabei zufällig auf dem benachbarten offenen Eisfeld einem Training eines Juniorenteams von Servette beiwohnten. Stimmt das?
Stéphane Charlin: Ja, so war das. Ich kann nicht genau erklären weshalb, aber dieser Sport hat mich sofort gepackt. Ich sagte meinen Eltern, dass ich das auch gerne einmal versuchen möchte.
Sie sind mit mir dann erst ein paarmal in den öffentlichen Eislauf gegangen, bevor sie mich für ein Probetraining anmeldeten. Ich fiel ununterbrochen hin, aber das schreckte mich nicht ab.

Im Gegenteil: Es verstärkte meinen Wunsch, diesen Sport auszuüben. Und halt so lange zu trainieren, bis ich es hinkriege.
SLAPSHOT: Waren Sie immer Goalie?
Charlin: Anfangs muss man ja abwechseln. Aber ich habe immer sofort die Hand gehoben, wenn ein Torhüter gesucht wurde.
Und auf dem Feld wollte ich stets als Verteidiger spielen. Irgendwie hat mich die Defensive am meisten fasziniert.
SLAPSHOT: Gab es einen Moment, in dem Sie realisierten, dass Sie gut genug sein könnten, um es in den Profibereich zu schaffen?
Charlin: Damit habe ich mich lange eigentlich überhaupt nicht beschäftigt. Ich spielte Hockey, weil mir das Spass machte. Und nahm Etappe um Etappe.
Bei den Bambini war Sébastien Beaulieu mein Cheftrainer. Er, der mich später jahrelang als Goaliecoach betreute. Ich war gut, aber nicht überragend. Es war auch nicht so, dass die Agenten sich um mich gerissen hätten.
Meinen ersten Vertrag bei Servette machten meine Eltern. Ich habe ihnen viel zu verdanken, sie haben viel Geld und Zeit für mich geopfert. Mit einer Profikarriere beschäftigte ich mich eigentlich erst ab der Novizen- oder Elitestufe.
SLAPSHOT: Bei Servette debütierten Sie schon mit 17 in der ersten Mannschaft. Der damalige Sportchef Chris McSorley sagt, es könne sein, dass das für Sie zu früh kam.
Charlin: Ich kann das nicht beurteilen und habe mir auch keine Gedanken darüber gemacht. Ich spiele dort, wo man mich einsetzt.
SLAPSHOT: McSorley sagt auch, er glaube, dass Sie noch nie einen höheren Puls als 70 gehabt hätten, so ruhig wie Sie immer wirken.
Charlin: Hat er das wirklich gesagt (lacht)? Das ist einfach meine Art. Es gibt auch im normalen Leben kaum Situationen, bei denen ich die Nerven verliere. Da muss schon viel passieren.

Was das Hockey angeht, habe ich früh realisiert, wie wichtig es ist, dass ich als Goalie meine Emotionen kontrollieren kann. Es hilft der Mannschaft sehr, wenn der Torhüter Ruhe ausstrahlt.
SLAPSHOT: Wie kriegt man das hin?
Charlin: Ich habe schon mit 17 mit Mentaltraining begonnen. Es gibt auch sonst viele Dinge, die hilfreich sein können. Ich meditiere beispielsweise regelmässig.
Und ich nutze die Technik der Visualisation. Das heisst: Ich schliesse vor den Spielen die Augen und stelle mir vor, wie ich im Tor stehe und Pucks abwehre.
SLAPSHOT: Wie kam das bei den Teamkollegen an?
Charlin: Es hat sich niemand darüber lustig gemacht, wenn Sie das meinen, es gibt kein Stigma.
Es kann sein, dass es einem anderen Spieler zum Beispiel hilft, vor den Partien zu tanzen. Es muss jeder selbst herausfinden, was ihm hilft.
SLAPSHOT: Befinden Sie sich während den Spielen in einer Art Tunnel?
Charlin: Nein, das würde ich nicht sagen. Ich bin einfach sehr konzentriert.
SLAPSHOT: Sind Sie abergläubisch?
Charlin: Ich habe gewisse Routinen. Aber es ist nicht so, dass ich einen Nervenzusammenbruch habe, wenn ich einmal den linken Schlittschuh vor dem rechten anziehe, nein.
SLAPSHOT: Sie kamen 2022 als Backup nach Langnau, nachdem Sie bei Servette kaum noch zum Einsatz kamen und immer wieder in die Swiss League verliehen wurden.
Dachten Sie: Das ist meine letzte Chance in der National League, die muss ich nutzen?
Charlin: Nicht in dieser Radikalität. Es war anfangs nicht einfach zu akzeptieren, dass Servette mich nicht mehr wollte. Aber meine Leistungen waren schlicht nicht gut genug, so ehrlich muss ich sein.

Ich hoffte, dass ich in Langnau mit neuen Impulsen und einem frischen Umfeld wieder in die Spur finden würde. Und genau das ist geschehen. Retrospektiv war es ein Segen, dass ich Servette verlassen musste. Der Schritt hat mir in jeder Hinsicht sehr gut getan.
SLAPSHOT: Hat Sie Ihr Aufstieg in den letzten zwei Jahren selbst überrascht?
Charlin: Ich wusste, dass ich Potenzial habe. Aber man muss auch sehen, dass die Statistiken nicht alles sind.
Unser System ist ziemlich defensiv ausgelegt. Diese Mannschaft hat einen Kern, der in den letzten drei Jahren gemeinsam gewachsen ist, die Automatismen stimmen. Das hilft mir.
SLAPSHOT: Der Langnau-Coach Thierry Paterlini sagte im Januar 2024, dass Sie lernen mussten, was es bedeutet, Profi zu sein.
Charlin: Ich bin ehrlich gesagt nicht ganz einverstanden mit der Aussage. Aber ich weiss, was er meint. Ich habe im Training dazu geneigt, unbeschwert aufzutreten. Viel zu lachen, Spass zu haben, locker zu sein.
Das ist nicht gespielt, ich liebe meinen Job und das Hockey. Aber ich habe inzwischen verstanden, dass andere Leute das so interpretieren können, dass ich meine Aufgaben nicht ernst nehme.

Das ist zwar falsch, mir hat es nie an Seriosität gemangelt, aber ich bin was mein Auftreten angeht jetzt zurückhaltender geworden. Einfach, um keine Angriffsfläche zu bieten.
SLAPSHOT: Bis Ende Januar feierten Sie bereits fünf Shutouts. Wie bedanken Sie sich bei den Mitspielern?
Charlin: Mit Gipfeli aus der Dorfbäckerei, das ist zu einem Ritual geworden.
SLAPSHOT: Was schätzen Sie an Langnau, am Emmental?
Charlin: Die Ruhe, die Natur und das Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Hockey-Kultur ist in Langnau tief verwurzelt, man spürt diese Inbrunst. Für uns Spieler ist das sehr motivierend.
SLAPSHOT: Und doch wechseln Sie im Hinblick auf die Saison 2025/26 zurück nach Genf.
Charlin: Wissen Sie, ich bin kein «Clubiste». Es geht mir darum, weiterzukommen. Ich gehe jeden Tag mit dem Anspruch an, dass ich mich verbessern kann – egal wo.

Ich bin den SCL Tigers sehr dankbar, ich habe hier den Spass am Eishockey wiedergefunden und grosse Fortschritte erzielen dürfen. Aber ich sehe bei Servette die besten Perspektiven dafür, einen Titel zu holen. Und das ist mein Ziel.
SLAPSHOT: Haben Sie fernab des Hockeys die gleiche Maxime? Besser werden, um jeden Preis?
Charlin: Ja, das ist tief in mir drin.
SLAPSHOT: Sagen wir: Sie kochen für sich und Ihre Freundin Spaghetti Carbonara. Ist es Ihnen dann ein Anliegen, das Gericht das nächste Mal noch ein bisschen besser zuzubereiten?
Charlin: Das ist ein gutes Beispiel, denn genau so ist es. Ich frage: Was könnte ich das nächste Mal besser machen? Es gibt immer etwas – und wenn es nur Details sind.
SLAPSHOT: Wie schalten Sie ab?
Charlin: Ich studiere an einer Fernuniverstität Wirtschaftsmanagement, das ist gut für die Balance, dafür, den Kopf nicht immer nur beim Hockey zu haben. Und ich lese viel. Am liebsten zum Thema Selbstoptimierung.
SLAPSHOT: Sie haben bei Servette unterschrieben, aber Ihr Weg könnte im Sommer auch nach Nordamerika führen. Sie wurden nie gedraftet und können sich den Klub frei aussuchen.
Charlin: Wir werden sehen, was geschieht. Auch da gilt: Ich werde abwägen, was für meine Entwicklung die beste Entscheidung ist.

Ich habe ja bis am 15. Juni Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Sofern sich überhaupt ein NHL-Team für mich interessiert, das kann ich nicht abschätzen.
SLAPSHOT: Ist die NHL ein lange gehegter Traum?
Charlin: Es ist die beste Liga der Welt, jeder will da hin. Aber ich bin kein Fanatiker, der jede Nacht vor dem Laptop sitzt und sich die Spiele reinzieht. Wir messen uns teamintern allerdings in einer Fantasy-Liga.
SLAPSHOT: Wer ist Ihr Nummer-1-Goalie?
Charlin: Anthony Stolarz von den Toronto Maple Leafs. Ich habe sechs Goalies in meiner Mannschaft. Aber die Stars sind eher die Feldspieler (lacht).
SLAPSHOT: Apropos NHL: Ihr Vorbild soll in jungen Jahren Patrick Roy gewesen sein, der ehemalige Meistergoalie der Colorado Avalanche und heutige Cheftrainer der New York Islanders.
Charlin: Richtig. Als Typ das absolute Gegenteil von mir. Sehr temperamentvoll. Aber ich mochte das. Bei ihm ist immer etwas passiert.
SLAPSHOT: Wie schon im vergangenen Winter wurden Sie auch nun für die Nationalmannschaft aufgeboten. Gehört die WM-Teilnahme zu den grossen Zielen?
Charlin: Auf jeden Fall. Allerdings habe ich im Nationalteam bisher leider selten gute Leistungen gezeigt.
SLAPSHOT: Woran liegt das?
Charlin: Es ist ein anderes Niveau, ein anderes System. Aber ich werde alles daran setzen, dass ich bei der nächsten Nomination bereit bin.
Über Stéphane Charlin
Geboren: 30. August 2000. Grösse: 193 cm. Gewicht: 95 kg. Vertrag: bis 2025. Stationen: SCL Tigers, Genf/Servette, SC Langenthal, HC La Chaux-de-Fonds, HC Sierre.