Entscheidung im Chauvin-Prozess mit Spannung erwartet
Fast ein Jahr nach der Tötung des Afroamerikaners George Floyd steht der Prozess gegen den verantwortlichen weissen Polizisten vor dem Abschluss. Das Urteil könnte in den USA neue Proteste auslösen.
Das Wichtigste in Kürze
- In einem der meistbeachteten Fälle von Polizeigewalt der jüngeren US-Geschichte wird mit Spannung auf eine Entscheidung der Geschworenen gewartet.
Nach den Abschlussplädoyers von Anklage und Verteidigung müssen sie jetzt beurteilen, ob der weisse Ex-Polizist Derek Chauvin die Schuld für die Tötung des Afroamerikaners George Floyd trägt. Dem 45 Jahre alten Chauvin droht im Fall einer Verurteilung eine lange Haftstrafe.
Die Erwartungen an das Verfahren sind in den USA immens: Viele Menschen, darunter viele Schwarze, hoffen auf ein Urteil, das ein Zeichen gegen Rassismus und Polizeigewalt setzt. Sollte Chauvin aber freigesprochen werden oder eine kurze Haftstrafe bekommen, könnte es massive Proteste geben. US-Präsident Joe Biden sagte, er bete dafür, dass das «richtige Urteil» gefällt werde.
Wegen einer möglichen Eskalation schickte der Bundesstaat Minnesota Tausende Nationalgardisten nach Minneapolis. Das Gerichtsgebäude, aber auch die Polizeistationen und der Ort, an dem George Floyd starb, wurden abgeriegelt und zusätzlich geschützt. Viele Geschäftsleute verbarrikadierten ihre Läden. Nach Floyds Tod war es in Minneapolis bei Protesten zu Ausschreitungen gekommen; mehrere Gebäude gingen damals in Flammen auf.
Der Gouverneur des Bundesstaats Minnesota, Tim Walz, und der Bürgermeister von Minneapolis, Jacob Frey, forderten die Menschen auf, nach der Bekanntgabe des Urteils friedlich zu demonstrieren und kein «Chaos» zu erlauben.
Auch Facebook befürchtet Gewaltausbrüche und trifft Vorkehrungen. So seien Teile von Minneapolis intern zu einem Hochrisikogebiet erklärt worden, teilte das Online-Netzwerk mit. Deshalb werde Facebook alle Aufrufe löschen, dorthin Waffen mitzubringen. Auch werde man zusätzliche Schritte unternehmen, um die Verbreitung falscher Informationen zu stoppen.
Floyds Bruder Philonise rief am Dienstag ebenfalls zu Besonnenheit auf. «Wir wollen einfach, dass alle friedlich bleiben», sagte er dem Sender NBC. Er könne die Menschen aber nicht davon abhalten zu tun, was sie tun wollten. Sie seien verletzt durch die Polizeigewalt im Land. Philonise Floyd sagte, er hoffe, dass das Urteil so ausfalle, «wie die Welt es gerne sähe». Er sei optimistisch. Floyd erzählte, Biden habe ihn am Montag angerufen und ihm sein Mitgefühl ausgesprochen. Mit Blick auf Bidens eigene Schicksalsschläge sagte Philonise Floyd: «Er weiss, wie hart es ist, ein Familienmitglied zu verlieren, und er weiss, was wir durchmachen.»
Biden sagte, er habe bewusst das Ende des Hauptverfahrens abgewartet bis zu diesem Anruf. Mit Blick auf die Familie von George Floyd sagte der Präsident: «Es ist eine gute Familie.» Sie hätten zu Frieden und Ruhe aufgerufen, «egal wie das Urteil ausfällt».
Das Hauptverfahren gegen Chauvin war mit den Abschlussplädoyers von Anklage und Verteidigung zu Ende gegangen. Staatsanwalt Steve Schleicher argumentierte, Chauvins exzessive und erbarmungslose Gewaltanwendung habe Floyd umgebracht. Floyd habe Chauvin bis zu seinem letzten Atemzug gebeten, ihn atmen zu lassen, während dieser 9 Minuten und 29 Sekunden auf ihm gekniet habe. Chauvin habe auf «schockierende» Weise gegen Polizeirichtlinien zur zulässigen Gewaltanwendung verstossen und müsse verurteilt werden. «Das war kein Polizeieinsatz, das war Mord», sagte Schleicher.
Der Staatsanwalt betonte immer wieder, dass Floyds Überlebenskampf unter Chauvins Knie 9 Minuten und 29 Sekunden gedauert habe - und das obwohl Floyd nur wegen des Verdachts festgenommen worden sei, mit einem falschen 20-Dollar-Schein gezahlt zu haben.
Chauvins Verteidiger Eric Nelson betonte hingegen die Unschuld seines Mandanten. Dessen Handeln bei Chauvins Festnahme sei berechtigte Gewaltanwendung im Rahmen eines «dynamischen» Polizeieinsatzes gewesen, weil Floyd sich der Festnahme widersetzt habe, argumentierte er. Zudem gebe es berechtigte Zweifel bezüglich Floyds Todesursache. Die Anklage habe die Schuld seines Mandanten nicht zweifelsfrei bewiesen, weswegen es einen Freispruch geben müsse, sagte Nelson.
Der 46 Jahre alte Floyd war am 25. Mai vergangenen Jahres in Minneapolis bei einer Festnahme ums Leben gekommen. Videos dokumentierten, wie Polizisten den unbewaffneten Mann zu Boden drückten. Chauvin presste dabei sein Knie rund neun Minuten lang auf Floyds Hals, während dieser flehte, ihn atmen zu lassen. Floyd verlor der Autopsie zufolge das Bewusstsein und starb wenig später.
Die Entscheidung über Schuld oder Unschuld fällt im US-Rechtssystem den Geschworenen zu. Für die Beratung der zwölf Jury-Mitglieder gibt es keine Zeitvorgabe - sie könnten innerhalb einer Stunde entscheiden oder nach einer Woche, wie Richter Peter Cahill vergangene Woche erklärt hatte. Die Geschworenen dürfen während der Unterredungen nicht mehr nach Hause, sondern sind in einem Hotel untergebracht. Die Jury bleibt aus Sicherheitsgründen bis auf Weiteres anonym.
Der schwerwiegendste Anklagepunkt gegen Chauvin lautet Mord zweiten Grades ohne Vorsatz. Darauf stehen im US-Bundesstaat Minnesota bis zu 40 Jahre Haft. Nach deutschem Recht entspräche dies eher Totschlag. Zudem wird Chauvin auch Mord dritten Grades vorgeworfen, was mit bis zu 25 Jahren Haft geahndet werden kann. Auch muss er sich wegen Totschlags zweiten Grades verantworten, worauf zehn Jahre Haft stehen. Dieser Anklagepunkt entspräche nach deutschem Recht der fahrlässigen Tötung. Chauvin hat auf nicht schuldig plädiert.
Floyds Schicksal hatte in den USA mitten in der Corona-Pandemie eine Welle an Demonstrationen gegen Rassismus und Polizeigewalt ausgelöst und entwickelte sich zur grössten Protestbewegung seit Jahrzehnten.
Chauvin war nach dem Vorfall entlassen worden. Er befindet sich gegen Kaution auf freiem Fuss und war während des ganzen Prozesses anwesend. Neben Chauvin sind drei weitere am Einsatz gegen Floyd beteiligte Ex-Polizisten angeklagt, die in einem separaten Verfahren ab dem 23. August vor Gericht stehen werden. Ihnen wird Beihilfe zur Last gelegt. Auch ihnen könnten langjährige Haftstrafen drohen.