Angriffe nähren Israels Sorge vor Konflikt an mehreren Fronten
Israels Konflikt mit seinen Nachbarn Libanon und Syrien sowie den Palästinensern ist schon Jahrzehnte alt. Aktuell ist die Lage jedoch brisant wie lange nicht mehr. Israels Feinde arbeiten immer enger zusammen. Auf tödliche Anschläge in Tel Aviv und im Westjordanland folgen Raketen aus Syrien – zuvor gab es schon den schwersten Raketenangriff aus dem Libanon seit eineinhalb Jahrzehnten. Israels Luftwaffe schlug in den nördlichen Nachbarländern ebenso wie im Gazastreifen zurück. Israel macht die dort herrschende Hamas für die Angriffe aus dem Libanon verantwortlich.
Der jüdische Staat mit seinen mehr als neun Millionen Einwohnern ist gegenwärtig mit einer ganzen Reihe Brandherde konfrontiert: im Norden der Libanon und Syrien, wo die Hisbollah und andere pro-iranische Milizen grossen militärischen Einfluss ausüben, im Süden die islamistische Hamas-Organisation, die den Gazastreifen kontrolliert. Zudem verüben militante Palästinenser im besetzten Westjordanland immer wieder Anschläge.
Als weitere, «innere Front» sieht der Politikexperte Kobi Michael Teile der arabischen Minderheit in Israel, von denen viele sich als Palästinenser identifizieren. Der Professor sieht Anzeichen für eine stärkere Verwicklung in Anschläge – auch der Urheber des jüngsten Attentats in Tel Aviv, wo ein italienischer Tourist getötet und sieben Urlauber verletzt wurden, kam aus einem arabischen Ort in Israel.
Der schlimmste Alptraum wäre ein Konflikt, in dem man sich mehreren oder gar allen Gegnern gleichzeitig gegenüber sähe. Einen Vorgeschmack gab es im Mai 2021, als es während eines Konflikts mit der Hamas im Gazastreifen auch in Israel zu Konfrontationen zwischen Juden und Arabern kam. Als gefährlichster Gegner für das Land, das dieses Jahr 75 Jahre alt wird, gilt weiter der Iran. Durch dessen Atomprogramm sieht sich Israel in der Existenz bedroht.
Hamas und Iran als Strippenzieher
Politikexperte Michael ist der Auffassung, dass sich Israels Feinde enger miteinander abstimmen. Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah traf in Beirut eine ranghohe Hamas-Delegation, um über mehr Zusammenarbeit zu sprechen. Der Iran als einflussreichster Gegner wolle einen Angriff auf seine Atomanlagen verhindern, sagt Michael. Dafür habe Teheran «in der Region binnen eines Jahrzehnts aktive Fronten gegen Israel aufgebaut». Ziel der Hamas sei die Kontrolle über das gesamte palästinensische System – und auch, die marode Autonomiebehörde von Präsident Mahmud Abbas im Westjordanland zu ersetzen.
Tempelberg als Auslöser
Als Auslöser der jüngsten Konfrontationen gelten Auseinandersetzungen auf dem Tempelberg in Jerusalems Altstadt, den Muslime als Al-Haram al-Scharif verehren. Juden ist der Ort ebenfalls heilig, weil dort früher zwei jüdische Tempel standen. Sie dürfen die Anlage zwar besuchen, aber dort nicht beten. Mehrere rechtsextreme Mitglieder der neuen rechtsreligiösen Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu schüren Sorgen der Palästinenser, dass Israel mehr Einfluss erlangen will. Israel wirft dagegen der Hamas vor, im Fastenmonat Ramadan Konfrontation zu suchen. «Die Idee ist es, zu eskalieren und alle Fronten aufzuheizen», meint Michael.
Frustration der Palästinenser als Treibstoff für Anschläge
Die meisten palästinensischen Attentäter seien heute nicht mehr mit bestimmten Gruppierungen wie Hamas oder dem Islamischen Dschihad verbunden. «Die junge Generation ist sehr frustriert, hat keine Hoffnung.» Sie wolle die israelische Besatzung abschütteln, aber auch die palästinensische Autonomiebehörde, die sie als Kollaborateur sehe. Mancherorts gebe es grosse Unterstützung für bewaffneten Widerstand. Seit Jahresbeginn wurden nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums 93 Palästinenser durch die israelische Armee oder bei eigenen Anschlägen getötet.
Interne Krise in Israel als Zeichen der Schwäche?
Israels interne Krise seit dem Amtsantritt von Netanjahus neuer Regierung vor etwas mehr als 100 Tagen bleibt auch den Gegnern nicht verborgen. Ein israelischer Journalist schrieb: «Unsere Feinde wittern Schwäche.» Michael meint jedoch, die Hisbollah glaube fälschlicherweise, «dass die Demonstrationen und Proteste ein Anzeichen dafür sind, dass Israels Widerstandskraft am Ende ist und der richtige Zeitpunkt gekommen, an allen Fronten anzugreifen, um den Zusammenbruch des zionistischen Projekts zu beschleunigen».
Kein Interesse an regionalem Krieg
Dennoch hat wohl keiner der Akteure momentan Interesse an einem neuen offenen Krieg. Israel habe es vorgezogen, nach den Raketenangriffen aus dem Libanon nur gegen die Hamas vorzugehen – obwohl jeder wisse, dass im Süden des Libanons nichts ohne Wissen und Billigung der Hisbollah geschehe, so Michael. Die UN-Friedensmission Unifil erklärte in einer offiziellen Stellungnahme: «Beide Seiten haben gesagt, dass sie keinen Krieg wollen.»
Der Libanon ist seit Monaten ohne Präsident, die geschäftsführende Regierung nur eingeschränkt handlungsfähig. Das Land steckt zudem in einer Wirtschaftskrise und hätte keinerlei Ressourcen, um Krieg zu führen. Experten sehen darin den Hauptgrund für die weitgehende Zurückhaltung der Hisbollah. Sie fürchtet demnach, im Kriegsfall viele Unterstützer zu verlieren.
Michael warnt auch davor, Israel zu unterschätzen – trotz der Massenproteste gegen die Regierung Netanjahus und deren Probleme. «Sollten wir uns in einem Krieg mit der Hamas und der Hisbollah befinden, gäbe es keinerlei Problem mit der israelischen Widerstandsfähigkeit.» Und der Politologe fügt hinzu: Es wäre «ein völlig anderer Krieg als jene, die Hamas und Hisbollah bisher gekannt haben».