Während der Präsident weiter strikte Anordnungen verweigert, haben lokale Politiker den Ernst der Lage erkannt und die Massnahmen gegen eine rasante Ausbreitung des Coronavirus verschärft.
Ein einfaches Kreuz ohne Namen und mit einer Nummer steht an einem offenen Grab am Friedhof von Iraja in Rio de Janeiro. Foto: Fernando Souza/dpa
Ein einfaches Kreuz ohne Namen und mit einer Nummer steht an einem offenen Grab am Friedhof von Iraja in Rio de Janeiro. Foto: Fernando Souza/dpa - dpa-infocom GmbH

Das Wichtigste in Kürze

  • Die meisten Bars und Restaurants in Rio de Janeiro haben am Samstag um 18 Uhr bereits ihre Läden heruntergelassen und die Türen geschlossen.
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«Rio de Janeiro ist eine Geisterstadt, nicht wahr?», sagt ein Fussgänger im Ausgehviertel Lapa. Anders als an vielen Wochenenden zuvor scheint die Nachlässigkeit, ja Gleichgültigkeit gegenüber dem Coronavirus nun der Vernunft gewichen zu sein. Das Stimmengewirr und die Musik weichen der Stille, an die Stelle des Barlichts tritt eine unwirtliche Dunkelheit.

Es ist das erste Wochenende eines «Lockdown light» mit einer Art Ausgangssperre gewesen. Rio de Janeiros Bürgermeister Eduardo Paes hatte erlassen, dass Bars und Restaurants ab Freitag um 17 Uhr schliessen müssen, der Aufenthalt auf öffentlichen Strassen und Plätzen zudem nach 23 Uhr verboten ist. Kioske an den berühmten Stränden wie der Copacabana blieben gleich komplett geschlossen.

Auch wenn Experten die Zögerlichkeit bei den nun ergriffenen Massnahmen und das Fehlen einer Lösung für die überfüllten öffentlichen Transportmittel kritisieren - Politiker in anderen Bundesstaaten und Städten haben den Ernst der Lage ebenfalls erkannt und die Massnahmen gegen eine rasante Ausbreitung des Coronavirus verschärft. So trat beispielsweise am Samstag auch São Paulo in die sogenannte rote Phase und die Geschäfte mussten schliessen.

Das Szenario heute erinnert sehr an den chaotischen Beginn der Pandemie im April und Mai - und ist der bisherige traurige Höhepunkt der Corona-Krise in Brasilien, das gerade seine tödlichste Woche erlebt hat. Allein am Mittwoch starben 1910 Menschen mit oder an Sars-CoV-2 - der höchste je registrierte Wert in Brasilien innerhalb von 24 Stunden. Innerhalb einer Woche sind laut offiziellen Zahlen rund 10 000 Brasilianer gestorben. Insgesamt haben sich im grössten Land in Lateinamerika seit Beginn der Pandemie 11 019 344 Menschen mit dem Coronavirus infiziert, 265 411 sind im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben. Brasilien hat 210 Millionen Einwohner und ist 24 Mal so gross wie Deutschland.

«Das ist der schlimmste Moment, und es wird noch schlimmer werden», sagt der Epidemiologe Diego Ricardo Xavier von der Forschungseinrichtung «Fundação Oswaldo Cruz» (Fiocruz) in Rio de Janeiro der Deutschen Presse-Agentur. Die angesehene Forschungseinrichtung schrieb in einem Bericht, dass sich die gleichzeitige Verschlechterung mehrerer Indikatoren im ganzen Land feststellen lasse. Und laut der Zeitung «Valor» rechnen hohe Beamte im Gesundheitsministerium damit, dass in den kommenden Wochen die Marke von 3000 Corona-Toten täglich überschritten wird.

Auf verschiedenen Friedhöfen in Rio werden am Samstag flache Gräber in einem Bereich mit trockener Erde und Steinboden für Beerdigungen vorbereitet, der Bestatter Douglas Silva in Caju schreibt nur Nummern auf das Kreuz eines Begrabenen, das er austauscht. In Irajá steht auf der Rückseite auch der Tag der Beerdigung. Die sogenannten covas rasas sind die älteste und einfachste Art der Bestattung und zeigen die Abgründe der brasilianischen Gesellschaft auf. Ursprünglich für die Armen vorgesehen, sind die Gräber ohne Namen in der Corona-Pandemie zu eine der wenigen erschwinglichen Optionen für viele Familien geworden, Angehörige zu begraben.

Der Epidemiologe Diego Xavier hofft, dass es in Brasilien, dem Land der Wunder, nicht so weit kommt, wie die Beamten im Gesundheitsministerium befürchten. Aber bei einem ist er sich sicher: «Viele Leute werden sterben, ohne dass sie in ein Intensivbett kommen.» Die Intensivbetten in 18 der 27 Bundesstaaten sowie dem Hauptstadtdistrikt sind laut Fiocruz zu mehr als 80 Prozent ausgelastet.

Nach der Amazonas-Metropole Manaus, der im Januar der Sauerstoff ausging, steht das Gesundheitssystem nun an mehreren Orten gleichzeitig vor dem Zusammenbruch, etwa auch in Regionen im Südosten und Süden, die über eine stärkere Infrastruktur verfügen. Alle zwei Minuten wird zum Beispiel im reichen São Paulo ein Patient ins Krankenhaus gebracht. In den von deutschen Einwanderern geprägten Bundesstaaten Santa Catarina und Rio Grande do Sul verlegen Hospitäler Patienten und stellen Kühlcontainer für die Leichen auf.

Jetzt passiert, was die Forschungseinrichtung Fiocruz im Dezember vorhergesagt hatte - bevor sich die Menschen an Weihnachten, Silvester, in den Sommerferien und der Karnevalswoche fast ohne Einschränkungen versammelten. «Hier in Rio ist alles 8 oder 80. Wenn wir nur ein bisschen am Jahresende und während des Karnevals eingeschränkt hätten, müssten wir jetzt nicht alles schliessen», sagt eine andere Passantin. Hinzu kommt eine Virus-Variante, die ansteckender und unempfindlicher gegenüber Antikörpern zu sein scheint als das ursprüngliche Virus - und recht frei zirkulieren kann.

«Das grosse Problem ist der Präsident», sagt Diego Xavier. «Er regt dazu an, dass die Leute sich versammeln, behauptet, dass eine Maske nicht hilft.» Nun fordern Gouverneure einen nationalen Pakt mit einschränkenden Massnahmen und mehr Impfstoffen. Präsident Jair Bolsonaro hat jedoch bereits klar gemacht, dass es mit ihm niemals einen landesweiten Lockdown geben werde. Am Tag, nachdem Brasilien zum zweiten Mal in Folge einen Höchstwert bei den Corona-Toten innerhalb von 24 Stunden registriert hatte, weihte Bolsonaro im Landesinneren das Teilstück einer Eisenbahnlinie ein, die Soja und andere landwirtschaftliche Produkte transportieren soll. «Ihr seid nicht zu Hause geblieben. Ihr seid nicht feige gewesen. Schluss mit dem "Mimimi"», sagte er zu den Arbeitern. «Mimimi» ist ein umgangssprachlicher Ausdruck für Gejammere, den der Rechtspopulist und seine Anhänger benutzen, um das politisch Korrekte zu bekämpfen.

Bis zur Jahresmitte will Fiocruz, deren Impfstofffabrik im Norden Rios als die grösste Lateinamerikas gilt, gut 110 Millionen Dosen des Corona-Impfstoffs von Astrazeneca auf der Basis von importiertem Arzneistoff herstellen; und in der zweiten Jahreshälfte dank Technologietransfers zudem weitere 110 Millionen Dosen völlig eigenständig produzieren können.

Die Hoffnungen der Brasilianer ruhen nun auf einem Durchbruch bei den ins Stocken geratenen Impfungen - und darauf, dass, wie es im Land heisst, Gott Brasilianer ist.

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