Coronavirus als nächste Katastrophe: Woran der Jemen zugrunde geht
Das Coronavirus wütet ungehindert im kriegsversehrten Jemen. Die Menschen sterben zu Hause. Etwa der Schwiegervater des Schweiz-Jemeniten Saddam Abu Asim (40).
Das Wichtigste in Kürze
- Im Jemen leidet die Bevölkerung unter Krieg, Hunger, Cholera und dem Coronavirus.
- Die Regierung hat die Lage nicht unter Kontrolle. Das Gesundheitssystem ist kollabiert.
- Die Menschen sterben in ihren Häusern und stecken ihre Familienmitglieder an.
Von der Öffentlichkeit weitgehend vergessen verschärft sich die humanitäre Krise im Jemen zurzeit massiv. Zu Krieg, Hunger und erneuten Ausbrüchen von Cholera kommt ein ungebremster Anstieg an Infektionen mit dem Coronavirus.
Das Virus verbreitet sich fast unsichtbar. Die Dunkelziffer ist extrem hoch. Das Gesundheitssystem war schon vor dem Ausbruch im April in desolatem Zustand. So können weder genügend Tests durchgeführt werden, noch können die kranken Menschen behandelt werden.
Die offiziellen Zahlen sind zu tief
Die Huthi-Rebellen, die die Region um die Hauptstadt Sanaa kontrollieren, verschleiern die Infektionszahlen. Sie meldeten bisher vier Infektionen und keine Todesfälle.
Aus den Gebieten, die von der Koalitionsregierung kontrolliert werden, veröffentlicht das «Hohe Nationale Komitee zur Bekämpfung von Covid-19» täglich Infektionszahlen. Laut diesen Angaben sind bisher über 900 Leute infiziert und rund 250 am Coronavirus gestorben.
«Diese Zahlen sind nicht wahr. Es sind viel mehr, aber sie sind nicht registriert.» Das sagt Saddam Abu Asim.
Er ist jemenitischer Journalist und flüchtete vor acht Jahren in die Schweiz. «Das Coronavirus tötet jeden Tag Hunderte angesichts der Unfähigkeit der Behörden, die Krise einzudämmen.»
Weder die Koalitonsregierung, noch die Huthi-Rebellen haben Massnahmen gegen die Verbreitung getroffen. Ein Lockdown wäre kaum durchsetzbar: Viele Menschen sind auf ihre tägliche Arbeit angewiesen. Wenn sie nicht arbeiten können, haben sie nichts zu essen.
Verdacht auf Coronavirus: Vom Krankenhaus weggeschickt
Abu Asims Familie wurde vom Elend nicht verschont. Im Mai ist sein Schwiegervater in Sanaa am Coronavirus gestorben. Das vermuten Abu Asim und seine Frau jedenfalls, denn er litt zwei Tage an Atemnot, bevor er starb.
Bestätigung haben sie keine. Als die Familie den Vater ins Spital in Sanaa brachte, wurden sie fortgeschickt. Es sei nicht das Coronavirus, sondern ein Husten.
Er starb zu Hause, und nun ist die ganze Familie krank. Saddam Abu Asim befürchtet, dass auch seine Schwiegermutter die Krankheit nicht überleben könnte.
Das ist kein Einzelfall. «In Sanaa und Aden gibt es nur je zwei Spitäler, die Corona-Patienten behandeln», sagt der 40-Jährige. Es fehle an Personal, Medikamenten und Atemgeräten. Es komme häufig vor, dass Patienten mit Corona-Symptomen weggeschickt würden.
Im besten Fall die Hälfte der Bevölkerung infiziert
Das Gesundheitssystem sei durch das Coronavirus komplett kollabiert, schreibt auch Ärzte ohne Grenzen. Die Hilfsorganisation unterstützt das krisengebeutelte Land bei der Gesundheitsversorgung. Fünf Jahre Krieg hätten das Gesundheitssystem schon zu weiten Teilen zerstört. Das Coronavirus gibt ihm nun den Rest.
Weil viele kranke Menschen erst spät im Spital ankämen, sei die Sterblichkeit überdurchschnittlich hoch, berichtet Ärzte ohne Grenzen. Medizinisches Personal und Ausrüstung fehle, deshalb sterben auch Menschen, die man eigentlich retten könne.
Zudem sind viele Jemeniten von Krieg und Hunger bereits geschwächt und damit verletzlich. Die Uno rechnet damit, dass sich 16 Millionen Jemeniten mit dem Coronavirus anstecken – mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Das gilt als Best-Case-Szenario.
Facebook wird zu «Deathbook»
Saddam Abu Asim's Facebook-Feed gleicht der Todesanzeige-Seite in der Zeitung: Fast alle trauern um Angehörige. «Deathbook» nennt er Facebook ironisch. Bitterer Humor ist das, was dem Jemeniten im Exil neben der Trauer übrig bleibt. Tun kann er kaum etwas.
«Ich appelliere an internationale Organisationen, dringend einzugreifen, um die Jemeniten zu retten», sagt Abu Asim. Das Land und die Hilfsorganisationen brauchen Geld für humanitäre Hilfe. Auch die Schweiz solle einen finanziellen Beitrag leisten und als neutrales Land Friedensbemühungen unterstützen.