Darum geht es im Konflikt zwischen Israel und Palästina
Der Nahost-Konflikt ist seit vielen Jahren ungelöst – immer wieder eskaliert die Situation. Experten erklären, was die Lage so kompliziert macht.
Das Wichtigste in Kürze
- Am Samstag wurde der Krieg im Nahen Osten mit den Hamas-Angriffen um ein Kapitel reicher.
- Der eigentliche Konflikt zwischen Israel und Palästina spielt sich auf mehreren Ebenen ab.
- Israel nur als Opfer zu sehen, greift zu kurz – Experten ordnen ein.
Im Nahen Osten ist die Lage weiterhin kompliziert. Die neusten Angriffe der Hamas auf Israel führen dies erneut eindrücklich vor Augen. Die Eskalation wirft erneut die Frage auf: Worum geht es eigentlich im Konflikt zwischen Israel und Palästina?
Auf Anfrage von Nau.ch sagt Andreas Böhm, Nahost-Experte von der Universität St.Gallen, zunächst: «Es sind verschiedene, sich überschneidende Konflikte, woraus eine komplexe Situation resultiert.»
Zum einen gibt es den Anspruch der Palästinenser auf Selbstbestimmung und deren Freiheitskampf. Zum anderen geht es auch um die Vorherrschaft in der Region. Interesse bekunden beispielsweise der Iran, Saudi-Arabien oder die Türkei.
Beide Seiten beharren auf Maximal-Forderungen
Historiker Hans-Lukas Kieser von der Universität Zürich hält auf Anfrage von Nau.ch fest: «Nicht nur zwei hartnäckige Nationalismen, sondern auch zwei Monotheismen kollidieren frontal in Palästina.»
Will heissen: Erstens stehen sich mit den Israelis und den Palästinensern zwei Nationen gegenüber. Zweitens hat der Konflikt auch eine religiöse Komponente – das Judentum auf der einen, den Islam auf der anderen Seite. Und auch das Christentum spielt laut Kieser in der Region eine wichtige Rolle. Der Experte führt aus: «Alle haben ihre eigenen Werte, Geschichtsverständnisse, Zukunftsvorstellungen und globalen Netzwerke.»
Das alleine wäre zwar an sich noch kein Problem. Aber wie Kieser erklärt, würden Akteure auf beiden Seiten auf ihren extremen Forderungen beharren. «Das ist offensichtlich im Falle radikaler Islamisten, aber leider auch wahr für tonangebende rechtsextreme Politiker in Israel.»
Ungleicher Krieg zwischen Israel und Palästina
Ein Blick auf die Todeszahlen der UN zeigt, dass die Opfer auf Palästina-Seite in den letzten Jahren deutlich zahlreicher sind. Seit 2008 sind es mehr als 6400 tote Palästinenser und rund 300 tote Israelis. Der Grund laut Kieser: «Israel ist militärisch weit überlegen.»
Ähnlich sieht es Böhm – auch er spricht von einer «Asymmetrie des Konflikts». Zudem seien die verschiedenen Taktiken ebenfalls wichtig: «Palästinenser im Westjordanland werden Opfer von Siedlerterrorismus und auch der Sicherheitskräfte. In Gaza hält die Hamas die Bevölkerung als menschliche Schutzschilde.»
Es ist entsprechend schwierig, die Rollen von Gut und Böse im Nahost-Konflikt jemandem zuzuordnen. Auch Israel hat sich in der Vergangenheit verschiedene Verbrechen zuschulden kommen lassen. So bringt beispielsweise die Bombardierung von Palästinenser-Gebieten, von wo aus die Hamas operiert, immer wieder hohe zivile Verluste mit sich.
Kieser nennt zudem die zahlreichen Festnahmen von Palästinensern als weiteren problematischen Punkt. Viele Tausende würden in Gefängnissen festsitzen, so der Experte, etwa tausend davon ohne Urteil.
Zur ebenfalls umstrittenen Siedlungspolitik Israels sagt er: «Der in den letzten Jahren nochmals forcierte Siedlungsbau in den besetzten Gebieten des Westjordanlands bricht systematisch internationales Recht.» Die Einführung von diskriminierenden Kontrollpunkten oder die Terrorakte von radikalen Siedler würden ebenfalls zu dieser Politik gehören.
Solidarität mit Israel angebracht – aber kein Blanko-Scheck
Schliesslich sagt Kieser, dass es zwar angebracht sei, mit den Opfern der Hamas-Angriffe Solidarität zu zeigen. Allerdings wäre es «höchst unmoralisch», sich mit der nun von Israel propagierten Abschottung des Gazastreifens zu solidarisieren.
Böhm hält ebenfalls zunächst fest: «Die Angriffe vom Samstag lassen sich durch nichts rechtfertigen, auch nicht durch die Besatzungspolitik.» Allerdings herrsche im palästinensischen Westjordanland laut Menschenrechtlern eine Art Apartheid-Regime. Palästinenser seien dort «praktisch rechtlos».
So gesehen lässt sich laut Böhm sagen: «Solidarität mit Angegriffenen lässt sich immer moralisch rechtfertigen, gerade bei einem solchen Angriff vom Samstag.» Das heisse aber nicht, dass Israel jetzt Menschen- oder Völkerrechtsverletzungen begehen dürfe. «Die Ankündigung Israels, nun die Wasser- und Stromversorgung in Gaza zu kappen, ist daher sehr kritisch zu betrachten.»
*Hans-Lukas Kieser, Historiker, Universitäten Zürich und Newcastle (Australien), Autor von «Nahostfriede ohne Demokratie» (Chronos 2023)