Nach heftiger Explosion: Lage in Karabach immer verzweifelter
Nachdem Berg-Karabach monatelang von Aserbaidschan blockiert wurde, gibt es kaum Medikamente, um die Verletzten der Explosion vom Montagabend zu behandeln.
Die Not steht der armenischen Ärztin aus Berg-Karabach förmlich ins Gesicht geschrieben: «In diesem Moment haben wir keine medizinischen Ressourcen mehr übrig, die uns helfen können», sagt sie in einem Video, das in sozialen Netzwerken vielfach geteilt wird. Es fehle an Antibiotika, Patienten müssten dringend ausgeflogen werden, sagt sie mit gehetzter Stimme.
Dann läuft sie zurück ins Krankenzimmer. Das Video soll am Dienstag aufgenommen worden sein – einige Stunden, nachdem unweit von Berg-Karabachs Hauptstadt Stepanakert ein Treibstofflager explodiert war. Laut den Behörden der international nicht anerkannten Republik starben mindestens 20 Menschen, rund 300 weitere wurden verletzt.
Hunderte standen an Tankstelle für Benzin an
Die Ursache der Explosion vom Montagabend ist noch immer unklar. Fest scheint nur zu stehen, dass ihr viele Menschen zum Opfer fielen. Sie wollten mit Autos flüchten vor der aserbaidschanischen Armee, die sie in der vergangenen Woche angegriffen und nach kurzen, aber heftigen Kämpfen besiegt hatte. Nach örtlichen Berichten standen sie zum Zeitpunkt des Unglücks zu Hunderten an der Tankstelle an, um Benzin für die Flucht zu erhalten.
Berg-Karabach liegt zwar auf aserbaidschanischem Staatsgebiet, wird aber mehrheitlich von ethnischen Armeniern bewohnt und ist zwischen den beiden verfeindeten Ex-Sowjetrepubliken schon seit Jahrzehnten umkämpft. Am vergangenen Dienstag startete das autoritär geführte Aserbaidschan eine Militäroperation zur Eroberung Berg-Karabachs. Nur einen Tag später ergaben sich die unterlegenen Karabach-Armenier.
Aserbaidschan blockierte einzige Zufahrt aus Armenien
Während der kurzen Kämpfe kamen armenischen Angaben zufolge mehr als 200 Menschen ums Leben, mehr als 400 weitere wurden demnach verletzt. Die Zehntausenden armenischen Zivilisten in der Region fürchten nun, vertrieben oder von den neuen aserbaidschanischen Machthabern unterdrückt zu werden.
Zusätzlich angespannt ist die humanitäre Lage, weil Aserbaidschan schon Monate vor den Angriffen mit einer Blockade der einzigen armenischen Zufahrtsstrasse nach Berg-Karabach begann. Deshalb sind unter anderem Lebensmittel knapp und – was aktuell besonders fatal ist – Medikamente.
Seit Sonntag dürfen flüchtende Zivilisten über diesen so genannten Latschin-Korridor ausreisen, und sie haben sich zu Tausenden auf den Weg gemacht. Auf Fotos vom Dienstag war zu sehen, wie sich auf der kurvenreichen Strasse riesige Staus bildeten; es ging nur schleppend voran.
Autos wurden mit dem wichtigsten Hab und Gut vollgepackt, teils der Hausrat auf das Fahrzeugdach geschnallt. Auf armenischem Staatsgebiet angekommen wurden die Menschen von Hilfsorganisationen in Empfang genommen. Viele wirkten völlig erschöpft, manche weinten.
Aktuell rund 19'000 Flüchtlinge vermutet
Die Regierung in Armeniens Hauptstadt Eriwan sprach zuletzt von rund 19'000 Geflüchteten. Unterdessen hielten in Eriwan auch die Proteste gegen die politische Führung an, die sich nach Ansicht der Demonstranten zu wenig für die Karabach-Armenier eingesetzt hat.
Mit Blick auf die Opfer der Tankstellen-Explosion mahnte unterdessen auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) schnelle Hilfe an. «Die Krankenhäuser in der Region waren bereits vor dem Zustrom von Patienten durch die Explosion überlastet», heisst es in einer Mitteilung.
Aserbaidschan bot medizinische Hilfe an
«Das ist eine absolute Tragödie für Hunderte von Menschen, die jetzt unter schrecklichen, schmerzhaften Verbrennungen leiden», sagte Ariane Bauer, IKRK-Regionaldirektorin für Europa und Zentralasien. Teams des Roten Kreuzes lieferten medizinische Hilfsgüter und halfen bei der Evakuierung von Verletzten per Krankenwagen, wie es hiess.
Offiziell bot auch Aserbaidschan seine Hilfe an. Baku sei zur Aufnahme von Opfern der Explosion aus Karabach bereit, teilte der aserbaidschanische Präsidentenberater Hikmet Hajiyev mit. Ob die Armenier nach den Ereignissen der vergangenen Monate nun aber ihre verletzten Landsleute in die Obhut des verfeindeten Nachbarlandes geben wollen, ist äusserst fraglich.