Nato befürchtet «vollständigen Angriff» auf Ukraine
Das Wichtigste in Kürze
- Im Westen wächst die Angst vor einem Einmarsch Russlands in der Ukraine.
- Nato-Chef Jens Stoltenberg befürchtet sogar einen «vollständigen Angriff».
- Jetzt machen auch Separatistenführer mitten in der angespannten Lage mobil.
Die Nato erwartet eine umfassende Attacke der russischen Armee auf das Nachbarland Ukraine. «Alle Zeichen deuten darauf hin, dass Russland einen vollständigen Angriff auf die Ukraine plant», sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in den ARD-«Tagesthemen».
Der Norweger sprach von einem fortgesetzten militärischen Aufmarsch. «Es werden keine Truppen zurückgezogen, wie Russland das angibt, sondern es kommen neue Truppen hinzu.» Es gebe ausserdem Anzeichen, dass Russland sich darauf vorbereite, einen Vorwand für einen Angriff zu schaffen.
Russland hat nach westlichen Angaben weit mehr als 150'000 Soldaten an der Grenze zum Nachbarland Ukraine zusammengezogen. Die Führung in Moskau streitet Angriffspläne aber ab. Das russische Verteidigungsministerium hatte in den vergangenen Tagen mehrfach mitgeteilt, dass nach dem Ende von Manövern Truppen zurückgezogen worden seien.
Die Lage verschärft sich vor allem an der Frontlinie zwischen der ukrainischen Armee und den von Moskau unterstützten Separatisten, die schon seit Jahren den Osten des Landes kontrollieren. Stoltenberg hält trotz der drohenden Eskalation weiter an einer politischen Lösung des Konflikts fest. «Wir wollen Russland dazu bringen, den Kurs zu ändern und sich mit uns zusammenzusetzen.»
Selenskyj betont Dialogbereitschaft mit Russland
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat indes in einem Telefonat mit Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron die Dialogbereitschaft seines Landes mit Russland betont. Wie es am Samstagabend aus dem Élyséepalast hiess, habe Selenskyj in dem Gespräch ausserdem zugesichert, nicht auf Provokationen moskautreuer Separatisten in der Ostukraine zu reagieren.
Er habe sich entschieden geäussert, eine Eskalation verhindern zu wollen. Macron will am Sonntagvormittag erneut mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin telefonieren, nachdem er vor zwei Wochen mit dem Kremlchef bereits in Moskau um eine diplomatische Lösung der Krise gerungen hatte.
Macron unternehme die letzten möglichen Anstrengungen, um einen Konflikt in der und um die Ukraine zu verhindern, hiess es in Paris. Es gehe um Perspektiven für die allernächsten Tage und ein Senken des Drucks. Wie es aus dem Élyséepalast angesichts der aufflammenden Gewalt in der Ostukraine hiess, habe «eine Form des Krieges» begonnen. So schnell wie möglich müsse ein Ausweg aus der Krise gefunden und deeskaliert werden.
Zwei ukrainische Soldaten getötet
In der Ostukraine setzten die Regierungsarmee und die von Russland unterstützten Separatisten den gegenseitigen Beschuss fort. Nach Angaben der Armee wurden zwei Soldaten getötet und vier weitere verletzt.
Die Aufständischen in den Gebieten Donezk und Luhansk ordneten angesichts der Lage eine allgemeine Mobilmachung von Männern für Kampfeinsätze an. Die Evakuierungen der Städte und Dörfer in den Regionen nach Russland gingen weiter. Russland testete unterdessen Raketen, die mit Atomsprengköpfen bestückt werden können.
Der Chef der Aufständischen im Gebiet Donezk, Denis Puschilin, rief Reservisten auf, sich an die Meldestellen des Militärs zu wenden. «Ich appelliere an alle Männer der Republik, die in der Lage sind, eine Waffe in der Hand zu halten, sich für ihre Familien, ihre Kinder, ihre Frauen, ihre Mütter einzusetzen.» Auch im benachbarten Gebiet Luhansk gab es einen solchen Appell. Männer im Alter von 18 bis 55 Jahren dürften die Region nicht verlassen.
Brüchiger Waffenstillstand
Im Konfliktgebiet machten sich beide Seiten einmal mehr gegenseitig den Vorwurf, gegen den geltenden Waffenstillstand verstossen zu haben. Die Aufständischen teilten mit, seit Mitternacht seien mehrere Dutzend Granaten auf ihr Gebiet abgefeuert worden. Die Armee sprach von 70 Verstössen durch die Separatisten. Diese Angaben liessen sich nicht unabhängig überprüfen. Im Laufe des Tages gab es zunächst keine Meldungen über neue grössere Angriffe.
Der Konflikt dauert schon seit fast acht Jahren an. In den Gebieten Donezk und Luhansk unweit der russischen Grenze kämpfen vom Westen ausgerüstete Regierungstruppen gegen von Russland unterstützte Separatisten. UN-Schätzungen zufolge sind bereits mehr als 14.000 Menschen getötet worden, zumeist im Separatistengebiet. Ein Friedensplan von 2015 wird nicht umgesetzt.
Die unsichere Lage war auch zentrales Thema bei der Münchner Sicherheitskonferenz. US-Vizepräsidentin Harris sprach von einem «Drehbuch russischer Aggression». «Wir erhalten jetzt Berichte über offensichtliche Provokationen und wir sehen, wie Russland Falschinformationen, Lügen und Propaganda verbreitet», sagte sie. Der britische Premierminister Boris Johnson warf Moskau vor, ein «Netz an Falschinformationen» zu spinnen.
Nach Einschätzung internationaler Beobachter nehmen die Verstösse gegen den Waffenstillstand massiv zu. In der Region Luhansk seien 648 Verstösse gegen die Waffenruhe festgestellt worden, darunter 519 Explosionen, hiess es in einer Mitteilung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Für die Region Donezk wurden 222 Verstösse gemeldet, darunter 135 Explosionen. Das war eine deutliche Zunahme im Vergleich zu den vergangenen Tagen.
Der Sonderbeauftragte des OSZE-Vorsitzes in der Ukraine, Mikko Kinnunen, bedauerte, dass sein Vorschlag für ein kurzfristig für Samstag angesetztes Treffen der Konfliktparteien nicht zustande kam. In einer solchen Situation müsse jede Gelegenheit genutzt werden, um Spannungen abzubauen. Russlands Aussenminister Sergej Lawrow rief Deutschland und Frankreich auf, mehr Druck auf die Ukraine bei der Umsetzung des Friedensplans auszuüben.
Evakuierungen durch Aufständische
Unterdessen liefen die Evakuierungen der Städte und Dörfer in den Separatistengebieten. Seit Freitagabend werden Menschen in die südrussische Region Rostow gebracht, wo Unterkünfte bereit standen. Nach Donezker Angaben vom Samstagmorgen wurden bereits mehr als 6000 Menschen in Sicherheit gebracht, darunter 2400 Kinder. Die Luhansker Aufständischen sprachen ihrerseits am Mittag von 13'500. Die Behörden in Rostow riefen wegen der vielen Menschen den Notstand aus.
Die Separatistenführungen hatten zur Flucht aufgerufen und den Appell mit einem drohenden Angriff durch ukrainische Regierungstruppen begründet. Ukrainische Regierungsvertreter und das Militär betonten mehrfach, keine Offensive gegen die Region zu planen. Zudem wurde die Geldausgabe von Bankautomaten im Donezker Gebiet am Samstag auf umgerechnet rund 114 Euro täglich begrenzt.
Unklar war zunächst der Hintergrund zweier Granateneinschläge in der Region Rostow - etwa einen Kilometer entfernt von der Grenze zur Ukraine. Das russische Ermittlungskomitee leitete ein Strafverfahren ein. In einer Mitteilung hiess es unter Berufung auf Medienberichten, dass ukrainische Streitkräfte dafür verantwortlich seien. Die ukrainische Armee wies die Vorwürfe zurück. Aussenminister Dmytro Kuleba forderte eine internationale Untersuchung.
In Moskau gab derweil Präsident Wladimir Putin den Start für ein Manöver mit Einsatz ballistischer Raketen. Der Staatschef habe die Übung mit dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko im Kreml verfolgt, das Präsidialbüro mit. Ziel war es dem Verteidigungsministerium zufolge, die strategischen Nuklearwaffen auf ihre Zuverlässigkeit zu testen. Die Armee feuerte demnach auch Marschflugkörper ab. Zudem sei eine Hyperschallrakete vom Typ Kinschal (Dolch) erfolgreich getestet worden.
Russland testet mehrfach im Jahr Raketen. Das Land und die USA sind die beiden mit Abstand grössten Atommächte der Welt.