«Bis zum Sieg!» - Ein Tag mit Russlands Staatsfernsehen
Russlands Staatsfernsehen ist wichtiges Sprachrohre des Kremls. Zwar informieren sich viele Russen - trotz Hindernissen - auch anderswo. Doch was sehen die, die nur TV gucken? Ein Selbstversuch.
Das Wichtigste in Kürze
- Wer als kremltreuer Russe in diesen Tagen das Staatsfernsehen einschaltet, für den ist die Welt durchaus in Ordnung.
Am Sonntag zum Beispiel zeigt Rossija-1 in den 11.00-Uhr-Nachrichten die Kapitulation der letzten ukrainischen Kämpfer aus dem Stahlwerk in Mariupol. Zu sehen sind Männer mit langen Bärten, blassen Gesichtern und Hakenkreuz-Tattoos. Sie hätten die Stadt völlig vermint, behauptet die Nachrichtensprecherin. Zur Beruhigung fügt sie aber gleich hinzu, damit sei es nun vorbei. «Azovstal ist komplett von den ukrainischen Nationalisten gesäubert.»
Die angebliche Befreiung der Ukraine von «Faschisten» und «Nazis» ist Moskaus wichtigste Rechtfertigung für den Angriffskrieg gegen das Nachbarland, der nun schon mehr als drei Monate dauert. Dass sich in Mariupol auch Kämpfer des tatsächlich von Rechtsextremen dominierten Asow-Regiments ergaben, ist für Russlands Staatsfernsehen geradezu ein Geschenk. Man kann einen ganzen Tag vor dem Bildschirm verbringen, ohne irgendwelche abweichenden Meinungen zu sehen oder zu hören.
Vieles wird nicht erwähnt
Dass es sich bei den Asow-Mitgliedern nur um einen Bruchteil der kämpfenden Frauen und Männer handelt, wird von den kremltreuen Medien nicht erwähnt. Dass für Tod und Leid von Zivilisten oft russische und prorussische Militärs verantwortlich sind, auch nicht. Und dass Mariupol nach der wochenlangen Belagerung international zum Symbol für die Brutalität des russischen Angriffskriegs wurde, erst recht nicht.
Umfragen zufolge wird der Krieg von der Mehrheit der rund 146 Millionen Russen unterstützt. All diese Menschen als hilflose Opfer von Staatspropaganda zu betrachten, wäre zu einfach. Kritische russischsprachige Nachrichtenkanäle gibt es weiterhin - auch wenn sie oft nur noch über Umwege wie alternative Internetverbindungen zu erreichen sind. Zugleich ist das Internet gerade in der Provinz aber oft schlecht oder gar nicht existent. Wer auf Kritik nicht zugreifen kann oder will, sieht nur das, was der Kreml ihm sagen will.
An diesem Nachmittag ist das etwa folgendes: Das Gebiet Cherson - wo die Bevölkerung immer wieder gegen die russischen Besatzer protestierte - sei nun «gesäubert». Ein Reporter zeigt, wie prorussische Kämpfer an den Waffen trainiert werden. «Die Jungs sind Prachtkerle», sagt ein Ausbilder. Einen Panzer, den wohl ukrainische Soldaten zurückliessen, bezeichnet der Reporter als «Trophäe». Sogar eine Feldsauna sei eingerichtet worden, erzählt er und stapft dazu mit dem Mikro in der Hand durch ein Waldstück.
Aufsehen erregende Aktionen
Zwischen den Nachrichten gibt es eine Musiksendung. Es wird gesungen, getanzt, gelacht. Der Krieg - oder vielmehr die «militärische Spezial-Operation», wie das hier nur heisst - scheint weit weg. Kritik am Vorgehen der Streitkräfte ist tabu. Wer es trotzdem wagt, riskiert nach einem neuen Gesetz bis zu 15 Jahre Haft. Umso mehr Aufsehen erregen Aktionen wie die der bis dahin linientreuen Redakteurin Marina Owsjannikowa, die während der Hauptnachrichtensendung des ersten Kanals mit einem Anti-Kriegs-Plakat ins Bild sprang.
An diesem Tag bleiben solche Zwischenfälle aus. Im abendlichen Wochenrückblick werden Bilder aus dem besonders umkämpften Osten der Ukraine gezeigt. Dass die eigene Armee Experten zufolge seit Wochen hohe Verluste erleidet und den Widerstand der Ukrainer komplett unterschätzt hat, sehen die Zuschauer von Rossija-1 nicht. «Wir erfüllen alle Aufgaben - bis zum Sieg», hören sie stattdessen von einem Soldaten im Gebiet Luhansk. Dann sehen sie Aufnahmen von russischen Nationalgardisten, die in eroberten Gebieten Sportkurse für Kinder anbieten, von geretteten Haustieren und von Menschen, die Russland-Fähnchen schwenken.
Zum Schluss noch lustig
Zum Tagesabschluss steht die Talkshow von Wladimir Solowjow an - Kritiker bezeichnen ihn als einen der wichtigsten Propagandisten des Kremls. Wieder geht es um Mariupol. Solowjow äfft zuerst den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nach, dann macht er sich über die letzten Verteidiger der Stadt am Asowschen Meer lustig. Nicht mal den Heldentod habe Kremlchef Wladimir Putin ihnen gegönnt, spottet er. «Sie haben sich in Gefangenschaft begeben. Einfach die Pfötchen nach oben gestreckt und sich ergeben.»
Unter Solowjows acht Gästen ist an diesem Abend auch die Chefredakteurin des ebenfalls staatlichen Senders RT, Margarita Simonjan. Sie nennt die Ukrainer «Feiglinge» ohne Moral. «Schaut, wie sie sich ergeben haben - in grünen Unterhöschen», ruft sie zu Aufnahmen fast nackter Männer, die sich auf offener Strasse vor ihren Gegnern ausziehen und durchsuchen lassen müssen. «Sie haben sich ergeben, weil sie Nazis sind», sagt Simonjan zufrieden. «Und Nazis ergeben sich immer.»