Dass die Cern-Physiker an dem Teilchenbeschleuniger nach drei Jahren Wartungspause spannende neue Forschung erwarten, ist eine Untertreibung. Sie sind einer Sensation auf der Spur.
Cern Genf
Der grosse Hadronenbeschleuniger am Cern in Genf gilt als ereignisreichstes, internationales Wissenschaftsprojekt der Erde. - dpa-infocom GmbH

Das Wichtigste in Kürze

  • Die grösste Forschungsanlage der Welt läuft bald wieder zu Höchstform auf.
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Der gigantische Teilchenbeschleuniger an der europäischen Organisation für Kernforschung (Cern) in Genf wird nach gut dreijähriger Wartungspause ab Ende März 2022 wieder hochgefahren.

Ab Juni sollen in dem 27 Kilometer langen unterirdischen Ring wieder Protonenstrahlen praktisch mit Lichtgeschwindigkeit aufeinander gejagt werden, um Kollisionen zu erzeugen. Physikerinnen und Physiker hoffen auf bahnbrechende neue Erkenntnisse, wie Forschungsdirektor Joachim Mnich der Deutschen Presse-Agentur sagt.

Der 2008 fertiggestellte Teilchenbeschleuniger simuliert die Zeit kurz nach dem Urknall, also die Geburtsstunde des Universums vor rund 14 Milliarden Jahren. Die Forschenden suchen nach den grundlegenden Gesetzen des Universums und untersuchen dafür die kleinsten Bestandteile der Materie, die Elementarteilchen. Dazu werden Teilchen zur Kollision gebracht, um die dabei entstehenden Zerfallsprozesse zu beobachten. Unter anderem gelang es 2012 am Cern erstmals, das mehr als 40 Jahre früher theoretisch beschriebene Higgs-Boson-Teilchen nachzuweisen, das anderen Elementarteilchen ihre Masse verleiht. Es galt als das letzte Puzzle-Teil des Standardmodells der Teilchenphysik.

Verbesserte Leistungsfähigkeit

Im Zuge der Inventur ist die Leistungsfähigkeit des Beschleunigers und der angeschlossenen Detektoren deutlich verbessert worden. Die Zahl der aufgezeichneten Kollisionen dürfte doppelt so hoch sein wie bisher. «Wir bekommen Zugang zu Prozessen, die sehr selten sind. Je höher die Zahl an Kollisionen, desto genauer die Ergebnisse», sagt Mnich.

Auf zwei Feldern dürften in nächster Zeit besonders spannende Erkenntnisse zu erwarten sein, erklärt Mnich, der vor seiner Ernennung Anfang des Jahres lange Direktor für den Bereich Teilchen- und Astroteilchenphysik beim Deutschen Elektronen-Synchrotron (Desy) war.

In einer der Forschungsanlagen, dem LHCb, sind in diesem Jahr erstmals Beobachtungen gemacht worden, die vom Standardmodell der Physik abweichen, das zwölf Materieteilchen und ihre Wechselwirkung beschreibt. Die sogenannten Beauty-Quarks zerfielen nicht wie erwartet zu gleichen Teilen in Myonen und Elektronen. Ursache für den Effekt könnte eine bislang unbekannte Naturkraft sein, sagt Mnich. Allerdings müsse die Beobachtung deutlich öfter gemacht werden, um Sicherheit zu haben.

«Wir hoffen, dass wir die Frage, ob das real ist oder eine statistische Fata Morgana, in den nächsten zwei Jahren klären können. Das wäre eine Sensation. Wir hätten dann zum ersten Mal den klaren Beweis, dass das Standardmodell nicht vollständig ist und nicht alle Phänomene beschreibt.»

Entschleuniger «Elena» aufgerüstet

Auch für die Antimaterie-Experimente beginne ein neues Zeitalter, sagt Mnich, «vielleicht mit Überraschungen». Dafür ist der 2017 in Betrieb genommene Entschleuniger «Elena» (Extra Low ENergy Antiproton ring) in der Wartungsphase aufgerüstet worden. Darin werden die Anti-Protonen so verlangsamt, dass sie besser eingefangen und beobachtet werden können. «Wir gehen etwa der Frage nach: Fällt Antimaterie nach unten wie normale Materie oder fällt sie nach oben?», so Mnich. Die Gravitation sei auf der Ebene der Subatome eine sehr schwache Kraft, der Nachweis deshalb sehr aufwendig.

Was bringt den Menschen das alles? «Natürlich ist es immer ein Erkenntnisgewinn. Wir versuchen ja zu verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält, wie die Natur funktioniert», sagt Mnich. Die Teilchenforschung habe auch schon jede Menge konkreten Nutzen gebracht. «Dass sich aus der Entdeckung vor 100 Jahren, wie Atome funktionieren, das Handy entwickelt, war damals ja auch nicht klar.» Unter anderem kommen die am Cern entwickelten Geräte und Verfahren in der Medizin, vor allem der Krebstherapie und Tumorbekämpfung, zum Einsatz. Nicht zu vergessen ist zudem das Internet, für das der damalige Cern-Computerspezialist Tim Berners-Lee mit dem World Wide Web 1990 die Grundlage schuf.

Ambitionierte Pläne

Das Cern hat grosse Pläne: Ein Sprung für den Teilchenbeschleuniger kommt in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts, wenn dank weiterer Ausbauten die sogenannte HiLumi-Phase beginnt: Dann produziert er fünf bis zehn Mal mehr Protonen-Kollisionen pro Sekunde als heute und generiert dadurch noch mehr Daten, die die Wissenschaftler auswerten können. Bis dahin müssen noch stärkere Magnete entwickelt werden, die die Protonenstrahlen an den Kollisionspunkten noch stärker fokussieren. «Es gibt schon Prototypen, aber noch sind nicht alle Qualitätsmerkmale erfüllt», sagt Mnich.

Für die 40er-Jahre liegt das Konzept für einen noch grösseren Beschleuniger auf dem Tisch: ein Ring mit 100 statt der bislang 27 Kilometern Länge. Die Machbarkeitsstudien dafür laufen seit Sommer. Mit seinem jetzigen Teilchenbeschleuniger ist das Cern weltweit führend, aber in Japan und vor allem in China gibt es ebenfalls ehrgeizige Pläne.

Die nächsten Champagnerflaschen werden am Cern nun erst einmal für Juni 2022 kaltgestellt. Dann dürften zwei Monate des vorsichtigen Hochfahrens des Beschleunigers abgeschlossen sein. «Es ist ja nicht wie beim Auto: Schlüssel umdrehen und los geht's», sagt Mnich. Kleinste Fehler könnten Geräte mit Millionenwert kaputtmachen. Wenn die ersten Kollisionen im Juni zustande kommen, ist das auf den Bildschirmen im Kontrollraum zu sehen, dann überreichen die Physikerinnen und Physiker der Beschleunigercrew traditionsgemäss Champagner. «Dort stehen schon eine ganze Reihe Flaschen», sagt Mnich. Leer natürlich.

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