Darum sind junge Franzosen so wütend auf den Staat
Viele französische Jugendliche sind unzufrieden mit der Situation in ihrem Land. Die Gründe sind vielfältig – eine entscheidende Rolle spielt die Polizei.
Das Wichtigste in Kürze
- In den vergangenen Tagen kam es in Frankreich zu gewaltsamen Protesten.
- Auslöser war der Tod des 17-jährigen Nahel bei einer Polizeikontrolle.
- Die Wut vieler Jugendlicher hat jedoch deutlich tiefergehende Gründe.
Frankreich erlebt aktuell ereignisreiche Tage. Nach dem Tod eines 17-Jährigen bei einer Polizeikontrolle wird das Land von heftigen Krawallen erschüttert. Insbesondere die Jugend ist an den Ausschreitungen beteiligt. Doch woher kommt diese Wut?
Gilbert Casasus, emeritierter Professor für Europastudien an der Universität Fribourg, sagt zunächst: «Es ist wichtig, nicht schablonenhaft zu denken. Es gibt nicht DIE französische Jugend.»
Trotzdem: Viele Junge, gerade in den Banlieues, seien wütend auf den Staat. Die Gründe dafür sind vielfältig. Ein Aspekt, den Casasus nennt, ist die Polizei selbst.
Französische Polizei immer rechtsradikaler
Denn diese sei in den letzten Jahren «immer rechtsradikaler geworden. Das ist keine Entschuldigung, aber eine mögliche Erklärung für die Ausschreitungen.»
Wichtig ist laut dem Frankreich-Experten: «Die Jungen sind nicht einfach nur die Armen, sondern haben auch Verantwortung.» Gut und Böse zu unterscheiden, sei bei den aktuellen Geschehnissen schwierig.
Casasus erklärt: «Auf der einen Seite steht die Polizei, die den Rechtsstaat übertrieben vertritt. Auf der anderen Seite die Jugendlichen, die den Rechtsstaat nicht mehr akzeptieren.»
Jugendliche kommen aus stigmatisierten Quartieren
Sandro Cattacin, Soziologe an der Universität Genf, nennt noch einen weiteren Grund. «Die betroffenen Quartiere sind stigmatisiert, haben ein Eigenleben entwickelt.»
In der Gesellschaft seien andere Ressourcen und Fähigkeiten gefragt, als diejenigen, welche die Jugendlichen besitzen. «Es ist diese Erfahrung von ‹keiner Chance› zu haben, die bei ihnen diese Wut aufkommen lässt», so Cattacin.
Der französische Philosoph Pascal Bruckner sagt gegenüber «Le Figaro» sogar: Der Tod des 17-jährigen Nahel sei lediglich «ein Vorwand» für die Ausschreitungen. Die Gewalt sei «allgegenwärtig» und zeige sich nun «im grossen Stil». Will sagen: Die Wut war schon vorher gross.
Kriegsrhetorik auf beiden Seiten
Die Beteiligten am Konflikt bedienen sich nicht zuletzt der Kriegsrhetorik. Polizeigewerkschaften bezeichnen die Protestierenden als «Schädlinge» und sprechen von «Krieg». Die Randalierer nutzen ähnliches Vokabular.
Experte Casasus hingegen betont: «Frankreich ist nicht im Krieg.» Dennoch seien die Seiten mittlerweile so verfeindet, dass es schwierig sei, Lösungen zu finden.
«Rechtsstaat funktioniert nicht mehr»
«Es gibt kein Wundermittel», sagt Casasus auf die Frage nach möglichen Lösungen. Aktuell herrsche in der französischen Politik der Grundtenor, dass es mehr Repression brauche. Mittel- und langfristig sei das aber keine Lösung.
Die Rolle von Präsident Emmanuel Macron dürfe man dabei nicht überbewerten. Er habe zwar verhältnismässig viel Macht, könne aber nicht alles lösen. «Die Staatsmacht ist in dieser Krise oft wirkungslos, der Rechtsstaat funktioniert nicht mehr.»
Casasus fasst das Problem so zusammen: «Der Präsident ist kein Zauberer. Die Krise ist viel profunder.»
Cattacin macht ebenfalls darauf aufmerksam, dass dem Staat zumindest kurzfristig die Hände gebunden sind: «Macron hat keine Chance. Es sind die Quartiere, die sich selbst regulieren werden.»