Darum wollen Franzosen eine rechtsradikale Regierung
In Frankreich steht der Rassemblement National vor der Mehrheit im Parlament. Warum ist die Le-Pen-Partei so beliebt? Das wären die Folgen des Rechts-Rutschs.
Das Wichtigste in Kürze
- Der rechtsnationale Rassemblement National dürfte in Frankreich neu stärkste Kraft werden.
- Ein Experte erklärt, warum die Le-Pen-Partei so viele Stimmen bekommt.
- Präsident Macron wird als «arrogant» und «abgehoben» empfunden – ist das die Strafe?
In Frankreich laufen gestern und kommenden Sonntag wegweisende Wahlen. Nach der Klatsche bei der Europawahl rief Präsident Emmanuel Macron Neuwahlen aus. Einen Tag nach dem ersten Wochenende ist klar: Dem mächtigsten Mann Frankreichs droht die nächste Niederlage.
Der rechtsnationale Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen liegt mit knapp über 29 Prozent der Stimmen vorne. Es folgt das Linksbündnis Nouveau Front Populaire mit knapp 28 Prozent. Macrons Mittelager schafft es nur auf 20 Prozent.
Macrons Plan, seine relative Mehrheit auszubauen, scheint in die Hose zu gehen. Welche Chancen hat er noch?
«Keine», findet Gilbert Casasus. Der emeritierte Direktor des Zentrums für Europastudien an der Universität Freiburg sagt: «Er hat das Parlament zum schlechten Zeitpunkt aufgelöst und muss nun den hohen Preis für diese Fehlentscheidung zahlen.»
Doch mittel- und langfristig sei für Macron noch nicht alles verloren. «Sollte das rechtsradikale französische Experiment in den folgenden Monaten scheitern, stünde ihm laut Verfassung in einem Jahr die Möglichkeit einer weiteren Auflösung des Parlaments offen.»
Strafe für «arroganten» und «abgehobenen» Präsidenten?
Nun geht es in Frankreich aber erstmals nach rechts. Für Henriette Heimbach ist klar: «Die Franzosen und Französinnen sind unzufrieden mit der aktuellen Regierung und dem Präsidenten.»
Heimbach ist assoziierte Politikwissenschaftlerin, arbeitet am Jacques Delors Centre der Hertie School und forscht an der Universität Luxemburg zu den deutsch-französischen Beziehungen.
Macron habe sehr schlechte Zustimmungswerte und werde von vielen als «arrogant» und «abgehoben» empfunden.
Die Rechten bieten «einfache Lösungen»
«Ein Teil der Menschen in Frankreich hat das Gefühl, dass die Regierung die Themen, die ihnen wichtig sind wie Kaufkraft, Sicherheit und Einwanderung nicht genügend adressiert. Die rechtsextreme Partei verspricht hier einen Wandel und bietet einfache Lösungen wie die Einführung einer doppelten Grenze in der EU.»
Geschadet habe Macron auch, dass er unpopuläre Gesetzesvorhaben durchgesetzt hat – wie etwa die Rentenreform. «Macron wird oft vorgeworfen, dass er den Unternehmen und Reichen hilft, aber nicht den einfachen Menschen. Hinzu kommt, dass Macron seine Projekte und Reformen womöglich schlecht kommuniziert hat.»
Casasus sagt: «Zwei Drittel der Franzosen wollen keine rechtsradikale Regierung.» Der RN sei wegen des Mehrheitswahlsystems dennoch in der Lage, die Regierungsverantwortung zu übernehmen.
Wer ist schuld am Rechts-Rutsch?
Bei der Frage nach dem oder den Schuldigen blickt der Frankreich-Experte bis 2005 zurück, als 55 Prozent der Franzosen den EU-Verfassungsvertrag ablehnten. Es habe sich eine zusammengewürfelte Koalition gegen Europa herausgebildet. «Unterschwellig hat ein erfolgreiches Frankreich eine Art gesellschaftskulturelle Hoheit gegen die Globalisierungsverlierer verloren.»
Die letzten Präsidenten Frankreichs hätten zwar Wahlen für sich entscheiden können. «Tiefgründig wurden sie aber stets mit zahlreichen sinnstiftenden Krisen konfrontiert, die das französische Modell stufenweise in den Abgrund führten.»
Mittlerweile sei «das ganze Gebilde zwischen Bürgern und Staat infrage gestellt, was den Französinnen und Franzosen (noch) nicht bewusst ist».
Mehr RN, mehr Diskriminierung
Laut Casasus ändert sich mit dem RN an der Macht «vieles und nichts Gutes». Diese Wahl sei ein Affront gegen die französische Kultur zugunsten rechter Thesen. «Die Le-Pen-Partei will mehr nationale Präferenzen setzen, was gleichzeitig mehr Diskriminierung bedeutet.»
«Dabei fällt der starke Stadt-Land-Graben auf, der angeblich das ‹wahre Frankreich› gegen das ‹Frankreich der Ausländer und Migranten› schützen und wiederherstellen möchte. So setzt sich eine kleinbürgerliche Ideologie durch, die an braune Zeiten erinnert.» Letztendlich werde dies das Land «wirtschaftlich, aussenpolitisch und in seinem europäischen Umfeld massgeblich schwächen».
Ein 28-jähriger Rechter wird Regierungschef
Neuer Regierungschef dürfte bald RN-Kandidat Jordan Bardella sein. Die Wählenden seien «somit bereit, die Regierungsverantwortung an einen 28-jährigen, unerfahrenen Politiker zu übergeben, der bei der Präsentation seines Wirtschaftsprogramms gar nicht in der Lage war, eine einzige Zahl zu nennen. Dies spricht Bände und lässt Schlimmes erahnen.»
Heimbach weist darauf hin, dass Frankreich in eine politische Krise stürzen könnte. «Mit Macron als Präsident einer anderen Partei befindet sich Frankreich in einer sogenannten Kohabition. Absprachen zwischen Präsident und Regierung werden sehr schwer, weil die Gräben zwischen Macron und dem RN tief sind.» Reformen wären dann schwer umzusetzen.
Frankreich künftig mit «zwei Stimmen»?
Auf europäischer Bühne würde Frankreich «an politischem Gewicht verlieren, sagt die Politikwissenschaftlerin. Das Land wäre «in seiner politischen Gestaltungsmacht blockiert. Da Präsident und Regierung von unterschiedlichen Parteien kommen, die europapolitisch diametral gegenüberstehen, würde Frankreich mit zwei Stimmen sprechen.»
Das wiederum würde Abstimmungen in der EU und mit Partnerländern wie Deutschland und der Schweiz schwieriger machen. «Da Frankreich das zweitgrösste EU-Mitgliedsland ist, hätte das einen sehr negativen Einfluss auf die Entscheidungen in der EU, wie zum Beispiel bei der Ukraine-Hilfe.»
Gebildete Franzosen könnten nun in die Schweiz kommen
Für Casasus besteht die Möglichkeit, dass gut gebildete Französinnen und Franzosen nach der Rechts-Verschiebung «ihr Glück in der Schweiz suchen». Das würde der hiesigen Wirtschaft und Wissenschaft sehr entgegenkommen.
Schweizer Investoren rät er wegen des hohen sozialen und politischen Risikos ab, demnächst in die französische Wirtschaft einzusteigen.
«Und sollten sich die Schweizer demokratisch und respektvoll zugunsten der humanistischen und aufklärerischen Werte verhalten, ist an einen Verzicht auf einen weiteren Frankreichurlaub oder auf den Kauf französischer Produkte am Beispiel von Autos ernsthaft nachzudenken.»