Der Fall Relotius: Vom Heilsbringer zum Alptraum der Medienwelt
Statt zu recherchieren, erfand Spiegel-Reporter Claas Relotius seine Geschichten. Kollege Juan Moreno hat ihn durchschaut, entlarvt – und ein Buch geschrieben.
Das Wichtigste in Kürze
- 2018 wurde bekannt, dass Spiegel-Reporter Claas Relotius fast alle Geschichten erfand.
- Aufgedeckt hat den Skandal Relotius' Spiegel-Kollege Juan Moreno.
- Nun erschien: «Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus».
«Lügenpresse», schmetterten vor allem rechtspopulistische Politiker und Wähler den Medien entgegen. Diese versuchten, trotz Einsparungen an allen Ecken, mit umso besserer Berichterstattung zu kontern. Dann kam Claas Relotius.
Erst als Heilsbringer, als Wunderkind. Einer, der in Zeiten kostenloser Information Geschichten erzählt, für die die Leute gutes Geld zahlen. Weil sie so nirgendwo sonst zu lesen waren.
Wer hatte mit dem Jungen gesprochen, der mit seinem Graffito den Syrienkrieg angekritzelt hatte? Wer mit ausgebeuteten Flüchtlingskindern in der Türkei? Oder mit den Eltern von US-Footballer Colin Kaepernick? Niemand – ausser Claas Relotius für den «Spiegel».
Die Medienlandschaft bebt
Ende 2018 dann wurde das Wunderkind von Hamburg zum Erdbeben für die Medienwelt. Star-Reporter Relotius hatte fast alle seine Reportagen gefälscht. Nicht nur aufgehübscht und ausgebaut, nein, meist waren sie frei erfunden.
Aufgedeckt hatte das Unglaubliche Relotius’ Spiegel-Kollege Juan Moreno. Jetzt erschien bei Rowohlt sein Bericht «Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus».
Der tiefe Fall von Claas Relotius
Reporter Moreno erzählt von den Ereignissen, die sein Misstrauen weckten. Amerika, 2015. Während er, Moreno, mit der Flüchtlingskarawane durch Mexico zog, infiltrierte Kollege Relotius auf der anderen Seite der Grenze innerhalb dreier Tage eine US-Bürgerwehr.
Ein Unterfangen, für das der eine US-Kollege Monate brauchte. Einem anderen gelang es während Jahren nicht. Doch wenn Relotius wirklich da war, warum hat man ihn bei der Bürgerwehr nie gesehen? Warum gleichen seine Figuren aufs Haar jenen aus einem Magazin und einem Dokumentarfilm?
Misstrauen und Vorwürfe
Moreno erzählt, wie aus dem ersten Misstrauen Stück für Stück Gewissheit wurde: Der Artikel ist erfunden. Relotius hat gelogen. Je länger die Recherche dauerte, umso deutlicher wurde: Diese Geschichte ist nicht die einzig falsche.
Doch je mehr Beweise Moreno fand, um das «System Relotius» zu entlarven, umso vehementer glaubten seine Chefs beim «Spiegel» an Relotius’ Unschuld. Je unumstösslicher Morenos Beweise wurden, umso enger schien sich die Schlinge um seinen eigenen Hals zu legen.
Als freier Journalist war Moreno beim Spiegel jederzeit per sofort kündbar. Das betonte die Spiegelleitung auch mehrmals gegenüber dem vierfachen Vater. Man glaubte sehr lange dem Heilsbringer der Medienwelt. Weil dessen Fall zu vernichtend wäre.
Wer akzeptiert, dass Relotius log, muss auch akzeptieren, ihm auf den Leim gegangen zu sein. Muss sich und der Welt eingestehen, die richtigen Fragen nicht gestellt und jegliche Skepsis abgelegt zu haben. Naives Vertrauen, statt kritische Analyse. Dazu steht keiner gern - erst recht kein Journalist.
Aufarbeitung statt Vertuschen
Für sein Buch legt Moreno nicht nur E-Mail-Konversationen und eigene Gedanken offen. Er recherchierte auch zur Person Relotius. Sprach mit dessen alten Bekannten und Arbeitskollegen. Versuchte, die von Relotius unbeantwortet gelassene Frage des «Warum» zu beantworten.
Gelungen ist ihm das nicht. Gelingen wird das niemandem, vielleicht nicht mal Relotius selbst. Der Verdienst von Morenos Bericht liegt vielmehr in der Rehabilitation des Journalismus per se.
Als ihm das Wasser bis zum Hals stand, entschloss der Spiegel sich für die Konfrontation. Statt nur das Nötigste zuzugeben, hat man die Lupe auf den Fall gerichtet. Jeder Fehler wurde pingelig untersucht, seziert und öffentlich gemacht. Zu verdanken ist das zu allererst der Hartnäckigkeit und Initiative des freien Mitarbeiters Moreno.
Transparente Aufarbeitung
Statt mit Relotius, dem Spiegel, oder der ganzen Branche abzurechnen, nähert sich Moreno der Skandal-Geschichte, wie jeder anderen auch. Durch Recherche. Das Buch ist keine Anklage, sondern der Versuch einer Erklärung. Transparenz, statt Rechtfertigung. Kritischer Ausblick, statt Vorwürfe.
Moreno erklärt nicht nur das «System Relotius». Er erklärt die Medienwelt und ihre aktuellen Probleme im Grundsatz. Das ist die Basis, um zu verstehen, warum einer wie Relotius alle blenden konnte. Allen voran gestandene Reporter. Gewohnt, nach dem Spiegel-Motto «Wir glauben erstmal nichts» zu arbeiten.
Ausblick und Hoffnung
Moreno bietet aber auch einen Ausblick. Zeigt auf, was sich auf Redaktionen ändern muss, um einen zweiten Relotius zu verhindern. Und macht klar: Komplette Kontrolle wird es im Journalismus nie geben. Die Basis heisst nach wie vor: Vertrauen.
Das alles macht Moreno, wie man es von einem guten Reporter erwarten darf. Er erzählt zügig, aber nicht schnörkellos. Ordnet ein, ohne den Erzählfluss zu stören. Wer die knapp 300 Seiten zum Fall Relotius liest, erfährt nicht nur etwas über den grössten Fälscher der deutschsprachigen Medienwelt.
Er lernt ein bisschen Gesellschaft und aktuelle Problemzonen mit dazu. Wer «Tausend Zeilen Lüge» in die Hand nimmt, legt das Buch so schnell nicht wieder weg.