Der Mordfall Lübcke: Warum jetzt?
Das Wichtigste in Kürze
- Stephan E. gibt Rätsel auf.
In der Nacht vom 1. auf den 2. Juni soll er den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) auf seiner Terrasse mit einem Kopfschuss getötet haben. Die Bundesanwaltschaft geht von einem rechtsextremistischen Motiv aus.
E. war in der Szene aktiv - doch bei den Behörden galt er in den zehn Jahren vor der Tat als unauffällig. Warum jetzt? Was bringt einen Menschen dazu, ein «politisches Attentat» zu verüben? Und: Wird es Nachahmer inspirieren?
«Wenn jemand nach einem längeren Zeitraum der Unauffälligkeit zuschlägt, dann kann es ein Auslöseereignis gegeben haben, das die Radikalisierung vorangetrieben hat», erklärt der Direktor des Instituts für Kriminologie an der Universität Köln, Frank Neubacher.
«Beim Linksextremismus von RAF und "Bewegung 2. Juni" war es der Besuch des Schahs im Juni 1967, bei Islamisten waren es die Folterungen im US-geführten Gefängnis Abu Ghraib.» Er sieht drei mögliche Ebenen einer Radikalisierung. Die persönliche sei immer gegeben. Gesellschaftliche Entwicklungen - etwa der Flüchtlingszustrom - könnten einen Einfluss haben. Und schliesslich das persönliche Umfeld, die Szene.
Sein Kollege Tobias Singelnstein, der als Kriminologe an der Ruhr-Universität Bochum forscht, sagt, die gesellschaftliche Debatte der letzten Jahre habe den Rechtsextremisten Auftrieb gegeben. Geflüchtete würden zu Feindbildern erklärt, der Ton sei aggressiver geworden. «Sie fühlen sich dann in ihren Positionen nicht mehr isoliert, sondern zu Taten angespornt und legitimiert. Wenn man sich manche Reden des AfD-Politikers Björn Höcke oder aus dem Pegida-Spektrum anschaut - das sind schon konkrete Aufrufe, selbst zur Tat zu schreiten.»
E. jedenfalls verübte schon lange davor, 1993, einen Anschlag auf ein Asylberwerheim in Hessen. 2009 war er in Dortmund an einem Angriff von Rechtsextremisten auf eine 1.-Mai-Kundgebung des DGB beteiligt. Das wird nicht alles gewesen sein: Das BKA spricht von einer «langen Latte von Straftaten».
Doch danach verschwindet E. vom Radar des Inlandsgeheimdienstes. Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Thomas Haldenwang, sagte dazu: «So wie wir auch bei den Islamisten die Kategorie der Schläfer kannten, so müssen wir eben ein solches Szenario auch im Bereich des Rechtsextremismus für möglich ansehen.»
Aus Sicht der beiden Wissenschaftler hinkt der Vergleich. «Ein Schläfer ist jemand, der sich gezielt eine bürgerliche Fassade zulegt, um dann aus dieser verdeckten Position heraus zuzuschlagen», meint Singelnstein.
E. hingegen sei Teil der rechten Szene gewesen. «Natürlich ist er älter geworden und hat wie viele Rechtsextremisten angefangen, ein bürgerlicheres Leben zu führen.» Neubacher unterstreicht: «Konspiratives Verhalten - Abschottung, Tarnnamen, verschlüsselte Kommunikation - gehört zu jeder Form von Extremismus. Das ist aber nicht das Gleiche wie ein "Schläfer" zu sein.»
Doch wann wird aus einem Unzufriedenen ein Täter? «Am gefährlichsten ist es, wenn solche Menschen das Gefühl haben, dass Bewegung und Erfolg abflauen, sie nicht mehr in der Offensive sind.» Zwar sei die Akzeptanz für rechtsextreme Positionen gewachsen, aber zugleich sei das Flüchtlingsthema weniger präsent, der Verfassungsschutz beziehe klar Position zur AfD. Das schliesse keine Wahlerfolge der AfD aus, doch womöglich erzeuge es Handlungsdruck auf Rechtsextremisten.
«Weder der NSU noch Stephan E. sind Leute, die vom Himmel gefallen sind», sagt Singelnstein. Bei rechtsextremistischen Tätern wie der Terrorzelle «Nationalsozialistischer Untergrund» (NSU) werde oft allzu schnell ein rein persönliches Motiv vermutet. «Wir sollten bei rechtsextremistischen Taten genauso wie beim islamistischen Terrorismus erst mal von einer politischen Motivation und unterstützenden Strukturen ausgehen.»
Die rechtsextreme Szene jedenfalls feiere den NSU, so Singelnstein. «Und Sie können mit Sicherheit davon ausgehen, dass auch der Mord an Herrn Lübcke dort abgefeiert wird.» Die Bewegung könne das als Signal zum Aufbruch verstehen. Es sei davon auszugehen, dass sich die Mobilisierung der vergangenen fünf Jahre in weiteren Terrortaten niederschlagen werde. «Ich halte das nur für eine Frage der Zeit.»