Dringende Appelle zu mehr Corona-Impfungen für den Herbst
Monatelang waren Impfungen gegen das Coronavirus knapp und begehrt. Inzwischen ist der Andrang aber deutlich schwächer geworden. Mit Blick auf die kältere Jahreszeit formuliert der Gesundheitsminister ein Ziel.
Das Wichtigste in Kürze
- Angesichts der stockenden Impfungen in Deutschland werden Warnungen vor einer kritischeren Corona-Lage in den kommenden Monaten lauter.
Mediziner befürchten im Herbst eine erneute starke Belastung der Intensivstationen, sollte das Impftempo nicht schnell anziehen.
Gesundheitsminister Jens Spahn und die Praxisärzte riefen dazu auf, Impfangebote anzunehmen. «Wir brauchen noch mindestens 5 Millionen Impfungen für einen sichereren Herbst und Winter», schrieb der CDU-Politiker am Samstag bei Twitter mit Blick auf vollständige Impfungen. Aus der Bundesregierung kamen Mahnungen an die Länder, zügig bessere Corona-Schutzvorkehrungen in den Schulen umzusetzen.
61,2 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft
Vollständig mit der meist nötigen zweiten Spritze geimpft sind laut Spahn nun 50,9 Millionen Menschen oder 61,2 Prozent der Bevölkerung. Mindestens eine Impfung bekommen haben knapp 54,7 Millionen Menschen oder 65,7 Prozent aller Einwohner. Das Impftempo hatte zuletzt aber nachgelassen. Spahn sagte der «Hannoverschen Allgemeinen Zeitung» (Samstag): «Die Impfquote ist noch zu niedrig, um eine Überlastung des Gesundheitswesens zu verhindern.» Die Infektionszahlen bei Ungeimpften seien mehr als zehn Mal höher als bei Geimpften, 90 Prozent der Covid-Patienten auf Intensivstationen seien ungeimpft.
Die Deutsche Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin warnte, es sei schon jetzt zu sehen, wie stark sich die Delta-Virusvariante in geschlossenen Räumen ausbreite. «Wenn wir bis Oktober nicht die Impfquote deutlich nach oben bringen, bekommen wir im Herbst einen richtig starken Anstieg der Corona-Fälle auf den Intensivstationen», sagte Präsident Christian Karagiannidis, der «Augsburger Allgemeinen» (Samstag). Die Entwicklung sei für den Fall, dass die Impfquote kaum noch steige, relativ genau vorauszuberechnen.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) warb dafür, jetzt vor allem noch Unentschlossene zu erreichen. «Hier sollte der Hauptfokus der Anstrengungen liegen, noch vor den Auffrischimpfungen», sagte Vorstandschef Andreas Gassen der Deutschen Presse-Agentur. Dafür seien einfache Impfangebote ohne Terminvereinbarungen sinnvoll. «Wir müssen Vertrauen in die Impfung erreichen und sie nicht mit Zwang durchsetzen wollen.» Die Impfung sei sicher. «Das müsste bei den meisten mittlerweile angekommen sein. Und wer das als Erwachsener nicht verstehen will, muss eben mit einer Infektion und schweren Erkrankung rechnen. Genau das muss den Menschen klar sein.»
Auch im Wahlkampf sind die Impfungen ein Thema.
Unionskanzlerkandidat Armin Laschet (CDU) forderte seinen SPD-Konkurrenten Olaf Scholz auf, von Begriffen wie «Versuchskaninchen» Abstand zu nehmen. «Menschen sind keine Versuchskaninchen in diesem Land», sagte Laschet am Samstag in Potsdam. Scholz hatte für Impfungen geworben und dazu etwa bei einer Kundgebung in Berlin gesagt: «Wir alle waren gerne eure Versuchskaninchen - bei uns ist das mit der Impfung gut gegangen, jetzt bitte macht es auch.» Spahn schrieb mit Blick auf Scholz auf Twitter: «So eine Wortwahl ist eine Steilvorlage für die, die mit Halb- und Unwahrheiten Vertrauen untergraben wollen.»
Der Berliner Virologe Christian Drosten sagte im Podcast «Das Coronavirus-Update» von NDR Info (Freitag): «Gelassen in den Herbst zu gehen, ist eine gewagte Vorstellung.» Er rechne damit, dass die Entwicklung Intensivstationen, andere Stationen und Notaufnahmen belasten werde. Manchmal sei es eher eine gewisse Gleichgültigkeit, die eine Entscheidung für die Impfung verhindere. Das sei ein Unterschied zu Portugal oder Spanien. «Die haben eine schreckliche gesamtgesellschaftliche Erfahrung hinter sich. Viele Tote und einen richtigen Lockdown, wo man nur zum Einkaufen mit Begründung nach draussen darf, und auf der Strasse patrouilliert das Militär.»
Bundesbildungsministerin Anja Karliczek forderte die Länder auf, sich bei Corona-Quarantäneregeln in der Schule auf eine «klare Linie» zu verständigen. Diese solle den Gesundheitsämtern aber auch «notwendige Spielräume im Einzelfall» lassen, sagte die CDU-Politikerin dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (Samstag). Sie würde sich freuen, wenn die Quarantäne von 14 Tagen für Kinder mit einer klugen Teststrategie verkürzt werden könnte. Bisher gibt es unterschiedliche Vorgaben für die Quarantäne, wenn es in einer Klasse ein infiziertes Kind gibt.
Auch Spahn kritisierte in der «Hannoverschen Allgemeinen Zeitung», die Bildungsminister der Länder hätten es bislang nicht geschafft, sich auf einheitliche Regeln für die Schulen zu verständigen. Die Frage sei auch, warum die Länder nicht mehr Luftfilter angeschafft hätten. «Wenn ich als Bundesminister über Tests und Impfstoffe so diskutiert hätte wie manche Länder über Lüftungsanlagen in Schulen, dann hätten wir bis heute keinen Impfschutz.» Der Jenaer Infektiologe Mathias Pletz warnte davor, Corona-Massnahmen an Schulen vorschnell komplett aufzuheben. «Nach allem, was wir über Delta wissen, kann man es nicht einfach laufen lassen», sagte der Direktor des Instituts für Infektionsmedizin und Krankenhaushygiene am Uniklinikum Jena der dpa.