Egon Schiele starb vor 100 Jahren
Unverkennbar Schiele: Grotesk verrenkte Gliedmassen, nackte Leiber, düstere Blicke. Die Werke des Ausnahmekünstlers Egon Schiele haben auch unbekannte Facetten.
Das Wichtigste in Kürze
- Egon Schiele starb heute Mittwoch vor genau 100 Jahren an der Spanischen Grippe.
- Zu diesem Zeitpunkt war er auf dem besten Weg zu grossem Ruhm.
Egon Schiele war 1910 und 1911 in einer extrem produktiven Phase. «Es brodelt in ihm. Er braucht mehrere Ventile, um seine Gefühle loszuwerden», sagt der Schiele-Kenner Stefan Kutzenberger von der Universität Wien. Der Ausnahmekünstler greift nicht nur zu Pinsel und Zeichenstift, sondern es entstehen – bis heute oft unbekannt – rund zwei Dutzend expressionistische Gedichte.
Die in Schönschrift auf Papier gebannten Werke wie «Weisser Schwan», «Tannenwald» und «Zwei Chleriker» sind Teil der noch bis 10. März 2019 dauernden Schiele-Jubiläumsschau im Leopold Museum in Wien. Sie erinnert zum heutigen 100. Todestag eines Mann mit noch unbekannten Facetten.
Als Schiele wenige Tage vor Ende des Ersten Weltkriegs an der Spanischen Grippe starb, war er auf dem besten Weg zum grossen Ruhm. Die Zeitungen hätten nach dem Tod des Jugendstil-Malers Gustav Klimt im Februar 1918 Schiele schon als seinen würdigen Nachfolger als Maler-Fürst gehandelt, schildert Kutzenberger. «Er verkaufte gut und hatte Ausstellungen.»
Gratwanderung zwischen Kunst und Missbrauch
Der Künstler und Studienabbrecher – er hatte schon als 16-Jähriger die Aufnahmeprüfung an der Kunstakademie in Wien bestanden, sie aber aus Frust über den Lehrbetrieb wieder verlassen – hatte früh erkannt, wie wichtig als freier Maler die Werbung in eigener Sache war. «Er war ein begnadeter Netzwerker, der seine Kontakte sorgfältig ausgewählt hat», meint der Kurator Kutzenberger nach dem Studium aller 2000 Briefe und Postkarten von Schieles Hand. Der Künstler mahnte darin die Adressaten, es möge ihm nicht so gehen, wie dem zu Lebzeiten verkannten Van Gogh.
Das Leben des Sohnes eines Eisenbahners hatte verstörende Züge. Oft las er Kinder von der Strasse auf und zeichnete sie dann nackt in seinem Atelier. Als sich ein Mädchen aus der Nachbarschaft wegen häuslichen Ärgers zu ihm und seiner Freundin Wally Neuzil flüchtete, trug ihm das den Verdacht des sexuellen Missbrauchs ein.
Nach mehrtägiger Untersuchungshaft wurde er 1912 zwar in diesem Punkt freigesprochen. Aber das Kind hatte die erotischen Blätter in seinem Atelier gesehen. Dafür wurde er zu drei Tagen Arrest wegen «Verbreitung unsittlicher Zeichnungen» verurteilt.
Begeisterte die Kenner
Auf dem Kunstmarkt verstörte und begeisterte der Expressionist die Kenner mit seinen Motiven geschundener Leiber, ihren verrenkten Gliedmassen, den verzweifelten Gesichtern. Immer wieder schuf er fast bizarre Selbstporträts und ging an Grenzen. Die «Liegende nackte Schwangere» (1910) mit gespreizten Beinen und einem maskenhaften Gesicht ist ein gewöhnungsbedürftiger Mal-Akt.
Zu seinen bekanntesten Werken zählt die Selbstdarstellung «Sitzender Männerakt» (1910), bei dem aus seinen Brustwarzen, dem Auge, dem Nabel und dem Genital seine Emotion wie glühende Lava hervorzubrechen scheint.
Erst Frau und Kind, dann eigener Tod
Eine direkte Verbindung zwischen den 3000 Zeichnungen und etwa 300 Ölbildern, die Schiele im Lauf von nur zehn Jahren geschaffen hat, und den Gedichten gebe es nicht, meint Kutzenberger. «Die Gedichte sind keine Bildbeschreibungen, sondern eigenständige Werke.»
Wenige Jahre vor seinem Tod verliess Schiele seine aus einfachen Verhältnissen stammende Muse Wally zugunsten der Bürgerstochter Edith Harms. In «Tod und Mädchen» (1915) verarbeitete der oft als Erotomane verschrieene Schiele die auch für ihn schmerzhafte Trennung. Das Bild, aktuell in einer Sonderschau im Wiener Belvedere zu sehen, zeigt, wie der Tod eine verführerische Frau zugleich schützend wie abwehrend umarmt.
Eine besondere Tragik begleitete die letzten Tage im Leben Schieles. Am 28. Oktober 1918 starb die im sechsten Monat schwangere Edith an der Spanischen Grippe. Aber auch Schiele steckte sich an. Der Tod ereilte ihn nur drei Tage später. Sein Ruhm verblasste schnell. Erst der Sammler Rudolf Leopold verhalf dem Künstler Jahrzehnte später zu einer zweiten steilen posthumen Karriere, gekrönt von Millionenpreisen auf internationalen Auktionen.