Grossbritannien setzt Freiwillige dem Virus aus
Während die Welt gegen die Pandemie ankämpft, infizieren in einem Krankenhaus in London Forscher junge Menschen gezielt mit dem Coronavirus. Zum Wohl der Allgemeinheit. Doch das ist hoch umstritten.
Das Wichtigste in Kürze
- Jeden Tag unternehmen Menschen in aller Welt grösste Anstrengungen, um sich nicht mit dem Coronavirus zu infizieren.
In London passiert nun genau das Gegenteil: Freiwillige werden gezielt infiziert - zum Wohle der Forschung.
Die ersten Tests dieser sogenannten «Human Challenge»-Studien haben am Wochenende begonnen. Das bestätigte eine Sprecherin des britischen Gesundheitsministeriums der Deutschen Presse-Agentur.
Die Probanden würden «in einer sicheren und kontrollierten Umgebung dem Virus ausgesetzt, rund um die Uhr überwacht von Medizinern und Wissenschaftlern», hiess es nun. Freiwillige zwischen 18 und 30 Jahren sollten die geringste mögliche Dosis an Viren zugeführt bekommen, die für eine Infektion notwendig ist - ohne vorherige Impfung. Während etliche Staaten Tag für Tag Tausende unfreiwillige Infektionen zählen, stellt sich die Frage: Wozu das Ganze?
«Das Human-Challenge-Programm wird die Entwicklung von Impfstoffen und Behandlungen gegen Covid-19 verbessern und beschleunigen», teilte die britische Regierung mit. Der Hintergedanke: Einerseits braucht man viel weniger Probanden, andererseits muss man nicht warten, bis sich Teilnehmer von Impfstoffstudien und mit Placebos geimpfte Kontrollgruppen zufällig in der echten Welt infizieren (oder eben auch nicht), wie es bei normalen Studien der Fall ist.
In der Vergangenheit kamen «Human Challenge»-Studien zum Beispiel bei der Entwicklung von Grippe- oder Malaria-Impfstoffen zum Einsatz. Kritiker weisen bei Covid-19 jedoch darauf hin, dass sich Langzeitschäden selbst bei jungen, gesunden Menschen nicht ausschliessen liessen. «Wir haben weiterhin keine verlässlichen Therapien, die diese Krankheit heilen», betont Rolf Hömke vom Verband Forschender Arzneimittelhersteller und kritisiert: «Menschen werden vorsätzlich in Gefahr gebracht, obwohl es Alternativen gibt.»
Auch Joerg Hasford, der in Deutschland den Arbeitskreis Medizinischer Ethik-Kommissionen leitet, hat diese Bedenken. «Man kann Impfstoffe, auch ohne Human Challenge-Studien entwickeln», hält der Ethiker fest und verweist auf die bereits zugelassenen Präparate. «Ich habe zunehmend Zweifel, ob wir dieses Risiko eingehen müssen.» Dass ähnliche Studien in Deutschland grünes Licht bekämen, hält Hasford für so gut wie ausgeschlossen. Zwar müssten Impfstoffe weiterentwickelt werden und auch weitere Erkenntnisse über das Virus, wie sie die britischen Forscher gewinnen wollen, seien «nice to have» – das stehe aber nicht im Verhältnis zum Risiko.
Lauren Thomas sieht das völlig anders. Die Studentin der Universität Oxford engagiert sich in der Organisation «1DaySooner», in der sich Interessenten für «Human Challenge»-Studien vernetzen. Für die ersten Labortests in London hat sie sich beworben, kam aber nicht infrage – weil sie sich im November bereits unabsichtlich mit Corona infiziert hatte. Trotz kurzem Fieber und einigen Wochen Nachwirkungen der Infektion ist die 25-Jährige für sich selbst gesehen überzeugt: «Ich würde das lieber noch zehn Mal durchmachen, als noch länger mit diesem Lockdown zu leben.» In Grossbritannien gelten seit Monaten harte Corona-Beschränkungen, im aktuellen Lockdown sind kaum Kontakte und öffentliches Leben erlaubt.
Insgesamt sollen in den Londoner «Human Challenge»-Studien unter Federführung des Imperial College London, die von der britischen Regierung mitfinanziert werden, bis zu 90 junge Erwachsene infiziert werden. In den ersten Tests geht es um die Übertragbarkeit des Virus, später dann um Impfstoffe und Medikamente. Die Forscher und Verantwortlichen spielen mit dem Risiko, dass nicht alle dieser Infektionen glimpflich verlaufen. Lauren Thomas und ihre Mitstreiter schreckt das nicht ab. «Das Risiko ist es wert», meint die Studentin.