Europawahl dürfte zur Abrechnung für deutsche «Ampel» werden
Zweieinhalb Jahre nach Vereidigung von Olaf Scholz im Reichstag in Berlin (D) steckt die «Ampel»-Koalition im Umfragetief.
Wenn am nächsten Sonntag die deutschen Abgeordneten für das Europaparlament gewählt werden, dürfte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) froh sein, dass nicht auch der Bundestag zur Wahl steht. Zweieinhalb Jahre nach seiner Vereidigung im Reichstag in Berlin steckt die «Ampel»-Koalition aus Scholz' Sozialdemokraten, Liberalen (FDP) und Grünen im Umfragetief. Die Europawahl, das einzige Kräftemessen auf nationaler Ebene ausserhalb der Bundestagswahlen, dürfte in Deutschland zur Abrechnung mit der «Ampel» werden.
In Umfragen notiert die SPD derzeit bei 14 bis 16 Prozent. Sie steht damit ähnlich schlecht da wie bei der Europawahl 2019 (15,8 Prozent), liegt aber weit unter den 25,7 Prozent, mit denen Scholz die Bundestagswahl 2021 gewann und der SPD nach den 16 Jahren von CDU-Kanzlerin Angela Merkel den Weg zurück ins Kanzleramt bahnte.
Die Grünen liegen mit 13 bis 15 Prozent nahe an ihrem letzten Bundestagsergebnis (14,8 Prozent), aber weit unter den stolzen 20,5 Prozent bei der Europawahl 2019. Die FDP würde mit 4 Prozent den Einzug in den Bundestag verfehlen, bei der Europawahl gilt in Deutschland aber keine Sperrklausel. Zusammen käme die «Ampel» also nur auf rund 33 Prozent.
Die unbeliebte «Ampel»
Auf das bevölkerungsreichste EU-Land entfallen 96 der 720 Sitze im EU-Parlament. Wahlberechtigt sind 60,9 Millionen Deutsche, ausserdem dürfen laut Bundeswahlleiterin rund 4,1 Millionen Bürger anderer EU-Länder in Deutschland wählen. Das Wahlalter wurde auf 16 Jahre herabgesetzt. Zeitgleich zur Europawahl finden in acht Bundesländern Kommunalwahlen und in Thüringen eine Kommunalstichwahl statt. Auch sie gelten als Indikator für die politischen Kräfteverhältnisse in Europas grösster Volkswirtschaft.
Dass die «Ampel» gut 15 Monate vor der nächsten Bundestagswahl so unbeliebt ist, hat verschiedene Gründe: Da ist zum einen die Zuwanderung, die die Regierung nach Meinung vieler nicht in den Griff bekommt, zum anderen die Energiepolitik mit einem umstrittenen Gesetz zum Austausch alter Heizungen oder auch die ständigen Streitereien zwischen den ungleichen Koalitionspartnern. Auch die als Folge des Ukrainekrieges zeitweilig hohe Inflation und die schwache Wirtschaftsentwicklung dämpften die Stimmung. Im vorigen Sommer machte schon wieder – wie zuletzt zur Jahrtausendwende – das Wort von Deutschland als dem «kranken Mann Europas» die Runde.
Wären jetzt Bundestagswahlen, dann hätte Oppositionsführer und CDU-Chef Friedrich Merz gute Chancen, Scholz im Kanzleramt abzulösen. Entsprechend dürften die Konservativen auch die meisten deutschen Abgeordneten nach Strassburg und Brüssel entsenden. In den Umfragen kommt Merz' CDU gemeinsam mit der christdemokratischen bayerischen Schwesterpartei CSU auf rund 30 Prozent und dürfte so die Reihen der EVP-Fraktion stärken, die von dem CSU-Politiker Manfred Weber geführt wird.
Rechts- und Linkspopulisten im Blick
Mit Spannung erwartet wird das Abschneiden der AfD, die vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuft wird. Um die Jahreswende kam sie deutschlandweit in Umfragen auf bis zu 24 Prozent, derzeit notiert sie bei rund 17 Prozent, immer noch deutlich besser als bei der vorigen Bundestagswahl (10,3 Prozent).
Kurz vor der Wahl regiert bei den Rechtspopulisten das Chaos: Spitzenkandidat Maximilian Krah erhielt von der Partei nach umstrittenen Äusserungen zur nationalsozialistischen SS Auftrittsverbot, einer seiner Mitarbeiter wurde vor Wochen wegen des Verdachts der Spionage für China verhaftet. Gegen die Nummer zwei der Liste, Petr Bystron, ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft München wegen des Verdachts der Bestechlichkeit und Geldwäsche, er bestreitet die Vorwürfe. Die rechte ID-Fraktion im EU-Parlament hat die AfD nach Krahs SS-Äusserungen ausgeschlossen.
Auf der Linken hat derweil ein neuer Akteur die politische Bühne bestiegen: das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) rund um die gleichnamige Bundestagsabgeordnete, eine Abspaltung von der Partei Die Linke. In der Zuwanderungsfrage und der Gesellschaftspolitik fährt sie einen deutlich konservativeren Kurs als die Linke, während sie wirtschaftspolitisch klassisch sozialistische Positionen vertritt. In Umfragen hat die Wagenknecht-Truppe die Linke mit rund sieben Prozent bereits überflügelt.
Auf EU-Ebene fordert das BSW ein «unabhängiges Europa» und spricht sich gegen weitere Waffenlieferungen an die Ukraine aus. Damit liegt es nicht weit von der AfD, die aber auch den Euro abschaffen und die EU in einen «Bund europäischer Nationen» umwandeln oder, falls dies nicht gelingt, für einen Austritt Deutschlands aus der EU kämpfen will.
Christdemokraten fremdeln mit Spitzenkandidatin
An der proeuropäischen Haltung der «Ampel»-Parteien und der CDU/CSU gibt es keinen Zweifel. Viele Christdemokraten fremdeln allerdings mit der eigenen Spitzenkandidatin, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Die Haltung der Parteifreundin beim Verbot von Neuwagen mit Verbrennungsmotor oder beim «Green Deal» gilt vielen schon als zu grün. Auch wenn die Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) wieder stärkste Kraft wird, ist noch lange nicht sicher, dass die Deutsche im EU-Parlament eine Mehrheit für eine zweite Amtszeit zusammenbekommt.
Welche politischen Auswirkungen ein Absturz der «Ampel» auf EU-Ebene in Deutschland haben wird, bleibt abzuwarten. Nach der Wahl 2019 hatte die damalige SPD-Chefin Andrea Nahles den Hut nehmen müssen. Eine vorgezogene Bundestagswahl gilt aber als äusserst unwahrscheinlich, Scholz dürfte noch bis wenigstens Herbst 2025 im Amt bleiben.