Experte erklärt die Hitler-Vergleiche von Papst Franziskus
Bei einer Pressekonferenz verglich Papst Franziskus die heutige Zeit mit der Frühphase des Nationalsozialismus. Der Experte gibt eine Einschätzung.
Das Wichtigste in Kürze
- Am Dienstag kritisierte der Papst die gastierende Fremdenfeindlichkeit.
- Der Religionsexperte wertet Franziskus' Aussagen als glaubwürdig.
- Der Papst wolle die Menschen erreichen, die sich für Freiheit und Demokratie einsetzen.
«Manchmal höre ich an einigen Orten Reden, die denen von Hitler 1934 ähneln.» Papst Franziskus rüttelt mit dieser Aussage weltweit auf. Der Zuwachs an Fremdenfeindlichkeit bereite ihm sorgen.
«Es ist eine Krankheit, die in ein Land eindringt, in einen Kontinent, und wir bauen Mauern», sagte das katholische Oberhaupt. Nau hat bei Antonius Liedhegener nachgefragt, wie glaubwürdig die päpstlichen Äusserungen sind. Liedhegener ist Politikwissenschaftler und Zeithistoriker am Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik (ZRWP) an der Universität Luzern
Nau.ch: Wie werten Sie die Aussagen des Papstes?
Antonius Liedhegener: Der Papst und die katholische Kirche stehen seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil von 1965 für die Menschenrechte. Die christliche Botschaft der Nächstenliebe spricht für das Tun des Papstes. Im Moment verschwimmen die menschenrechtlichen Standards in Europa und weltweit.
Nau.ch: Wie muss man das verstehen?
Antonius Liedhegener: Der Papst zog den Vergleich zur frühen Phase des Nationalsozialismus. Damals herrschte eine Phase der Uneindeutigkeit, in der die geistigen Vorbereitungen für die Verbrechen getätigt wurden. Die ganze Ideologie war alltagstauglich und wanderte Stück für Stück in das Denken der Menschen ein. Diese Art der kollektiven Ausgrenzung von Menschen als «Andere», «Fremde» oder «Feinde» will der Papst heute verhindern.
Nau.ch: Sind solche Aussagen nicht heuchlerisch, etwa in Bezug auf die Verstrickungen der katholischen Kirche und des Nationalsozialismus?
Antonius Liedhegener: Alle wollen aus der Geschichte lernen. Die Verbrechen sollen sich nicht wiederholen. Zudem muss man sich fragen, wer damals das Rückgrat hatte, sich gegen das NS-Regime zu stellen. Es waren Kommunisten, Sozialdemokraten – und auch Laien und einfache Geistliche aus der katholischen Kirche.
Bischöfe haben vor allem anfangs grobe Fehleinschätzungen getätigt, einige wie Kardinal von Galen haben aber versucht, diese später zu korrigieren. Etwa mit seinem Einsatz gegen die Euthanasie, die systematische Tötung psychisch kranker und behinderter Menschen in den KZs. Die folgende Lehre wurde daraus gezogen: Die universale Würde des Menschen ist entscheiden, nicht die Religion oder das vermeintliche Merkmal der Rasse.
Nau.ch: Der Papst monierte auch ausgrenzende Komponente in der Gesellschaft. Doch der katholischen Kirche wird ebenfalls regelmässig Ausgrenzung vorgeworfen.
Antonius Liedhegener: In der Kirche findet einen Wandel in Bezug auf die Ausgrenzung statt. Keine Religion steht ausserhalb der Zivilisation. Mal sind diese Gemeinschaften vorbereitend, mal agieren sie verhindernd.
Im Katechismus (Handbuch über Grundlagen des christlichen Glaubens der römisch-katholischen Kirche, a.d.R.) befinden sich derzeit beispielsweise in Bezug auf die Homosexualität alte Abgrenzungsmechanismen, und erste neue Aspekte ihrer Gleichheit und Akzeptanz nebeneinander.
Nau.ch: Erreichen seine Worte überhaupt diejenigen, die er kritisiert?
Antonius Liedhegener: Im Idealfall wird jemand mit fremdenfeindlichen Tendenzen nachdenklich. Ich bin aber der Ansicht, dass seine Stimme vor allem denjenigen gilt, die sich gegen den Abbau von Freiheit und Demokratie und die versuchten Normverschiebungen durch den Rechtspopulismus stemmen.
Diese Menschen werden ermutigt, an eine friedliche Zukunft in Freiheit zu glauben. Gerade eine solche Stimme braucht es heute.
Nau.ch: Inwiefern?
Antonius Liedhegener: Aktuell gibt es keine global agierende Organisation, die sich mit gleicher Sichtbarkeit um die Fragen der Mitsprache und Freiheit kümmert. Die Rolle der USA ist aktuell problematisch. Die Vereinten Nationen sind geschwächt. Die EU ist zerstritten. Das Papsttum kann als globale Stimme gesehen werden, die zivilgesellschaftlich heute mehr denn je nötig ist