Jetzt will Ukraine Krieg nach Russland bringen
Kiew schlägt im Ukraine-Krieg zurück und greift auch auf russischem Gebiet an. Experten ordnen die neuste Aktion in der Region Kursk gegenüber Nau.ch ein.
Das Wichtigste in Kürze
- Das russische Gebiet Kursk wird von ukrainischen Angriffen getroffen.
- Der Kreml reagiert nervös – man könnte von einem «PR-Coup» der Ukraine sprechen.
- Was genau hinter der spektakulären Aktion steckt, ist jedoch noch unklar.
Die Ukraine hat offenbar zum Gegenschlag angesetzt: Anfang Woche starteten Kiews Truppen Angriffe auf das russische Gebiet Kursk.
Dabei stiessen die Ukrainer bis über die Grenze vor. In Russland wurde in der Folge der Ausnahmezustand verhängt. Präsident Wladimir Putin höchstpersönlich beschäftigt sich mit der Situation und will sie unter Kontrolle bringen.
Tausende Russinnen und Russen wurden in der Folge aus der betroffenen Region evakuiert.
Wladimir Putins «Normalität» im Ukraine-Krieg wackelt
Ist das nun der Auftakt zu einer grossen Gegenoffensive der Ukrainer?
Nein, sagt Osteuropa-Experte Ulrich Schmid von der Universität St. Gallen gegenüber Nau.ch: «Dazu hat die Ukraine zurzeit keine Ressourcen.»
Stattdessen gehe es darum, den Krieg nach Russland zu bringen. So könne man «Putins Normalitätsversprechen ad absurdum führen».
Putin habe sich selbst als Krisenmanager eingeschaltet, sagt Schmid. «Damit will er signalisieren, dass er die Lage kontrolliert.» Doch sein Ruf als «Garant für Stabilität und Sicherheit» ist im Ukraine-Krieg unter Druck geraten.
Zur Erklärung: Seit der Eskalation im Ukraine-Krieg bemüht sich der Kremlchef darum, zu zeigen, dass das Leben in Russland normal weitergeht.
Im Gegensatz zur Ukraine wurden in Russland beispielsweise die Präsidentschaftswahlen regulär abgehalten. Wenn aber natürlich die Kämpfe vermehrt auch im eigenen Land stattfinden, ist der Schein der Normalität kaum aufrechtzuerhalten.
«PR-Coup» oder Ablenkung: Verschiedene Interpretationen möglich
Osteuropa-Experte Nicolas Hayoz von der Universität Freiburg betont zunächst, dass die Informationslage schwierig ist. Gesicherte Erkenntnisse zu erhalten, sei praktisch unmöglich – die Führung um Wolodymyr Selenskyj ist bisher still.
Es ist auch nicht auszuschliessen, dass russische Freiwilligenverbände, die selbst gegen das Putin-Regime sind, beteiligt sind.
Entsprechend könne man auch nur mutmassen, was hinter den Angriffen steckt. Klar ist aber, dass die neusten Aktionen über bisherige Attacken hinausgehen.
Man könnte laut Hayoz jedenfalls von einem «PR-Coup» der Ukrainer sprechen. Der Experte erklärt: «Es muss für die russische Militärführung einer Blamage gleichkommen, dass die Ukrainer so schnell auf russisches Gebiet vorrücken konnten.» Sie sei seither auch wieder kritisiert worden.
Die Ukrainer würden dagegen etwa die Botschaft aussenden: «Wir können auch russisches Territorium erobern.» Diese Verwundbarkeit des russischen Gebiets sei für Putin «sehr unangenehm».
Möglich ist aus der Sicht von Hayoz auch, dass Kiew von der schwierigen Lage im Süden ablenken wolle. Die Russen könnten nämlich gezwungen werden, mehr Mittel nach Kursk zu entsenden. Falls es den Ukrainern gelingen sollte, Teile des Gebiets zu besetzen, könnten diese als Pfand für Verhandlungen dienen.
Zudem erhielt die Ukraine kürzlich die ersten F-16-Kampfjets aus den USA geliefert. «Das könnte auch im Zusammenhang mit dieser Operation stehen», sagt Hayoz.
Kreml nervös: Experte sieht Parallelen zu Prigoschin-Aufstand
Dass genau das Gebiet Kursk von den Gegenangriffen im Ukraine-Krieg betroffen ist, ist kein Zufall. Schmid erklärt: «Es gibt dort Munitionslager der russischen Armee. Ausserdem werden von dort aus Raketen abgefeuert.» Die Angriffe seien letztlich ein begrenzter Einsatz von Bodentruppen zur Aufklärung und zur Sabotage.
Die grosse Gegenoffensive ist es, zumindest bisher, also kaum. Dennoch haben die Angriffe Auswirkungen auf Russland, denn der Kreml sei sichtbar nervös, sagt Schmid.
«Bisher hat man der russischen Bevölkerung versichert, die russische Armee sei unbesiegbar. Nun muss man einräumen, dass man nicht einmal die eigenen Grenzen sichern kann.»
Laut Schmid erinnert die aktuelle Lage auch an die Aufregung nach dem Aufstand von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin. Er und seine Söldner hatten sich im Juni 2023 – mitten im Ukraine-Krieg – gegen die russische Regierung aufgelehnt.
Prigoschin brach den Marsch auf Moskau schnell wieder ab – unter anderem nach Gesprächen mit Belarus-Präsident Alexander Lukaschenko. Schliesslich kam er im August 2023 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben.