Johnson geht - doch wer räumt die Scherben auf?
Noch vor kurzem fabulierte er davon, bis in die 2030er Jahre zu regieren. Doch nun endet die Amtszeit von Boris Johnson. Der scheidende britische Premier hinterlässt ein Trümmerfeld.
Das Wichtigste in Kürze
- Zum Schluss gibt Boris Johnson noch einmal alles.
Wie ein Irrwisch reist der scheidende Premierminister durch Grossbritannien. Kündigt hier ein Atomkraftwerk an, lobt sich dort dafür, das Glasfasernetz ausgebaut zu haben. Von einer Siegestournee sprechen seine Anhänger, die noch immer zahlreich sind. Über verschwendetes Steuergeld klagen seine Gegner. Wenige Tage vor seinem Auszug aus der Downing Street polarisiert der Populist mit dem blonden Wuschelschopf noch immer. An diesem Montag erfährt das Land, wer auf Johnson folgt - Aussenministerin Liz Truss gilt als grosse Favoritin, Ex-Finanzminister Rishi Sunak ist nur Aussenseiter.
Doch gleich, wer künftig die Regierung führt, sie oder er muss vom ersten Tag an nicht nur den Spagat zwischen Nähe und Distanz zu Johnson bewältigen. Es geht darum, die Scherben aufzuräumen, die der 58-Jährige in der britischen Politik hinterlässt. Anstand und Moral sind in der Ära Johnson auf der Strecke geblieben. «Mangel an Vertrauen ins Amt des Premierministers ist eines der grössten Probleme, denen der nächste Amtsinhaber gegenübersteht», kommentierte die «Guardian»-Korrespondentin Pippa Crerar, deren Recherchen zur Partygate-Affäre letztlich Johnsons Sturz eingeleitet hatten.
Dazu kommen zahlreiche Baustellen: Favoritin Truss hat noch nicht klargemacht, was sie gegen die explodierenden Preise für Strom und Gas unternehmen will, die Millionen Briten in die Energiearmut treiben dürften. In etlichen Branchen wird gestreikt. Der Gesundheitsdienst NHS steht nach der Pandemie enorm unter Druck, Millionen warten auf Operationen und Behandlungen. Pflege und Sozialfürsorge benötigen dringend Reformen. Der Brexit ist trotz Johnsons ständiger Betonung alles andere als «done», erledigt. Und schliesslich ist London ein wichtiger Verbündeter der Ukraine.
Truss überzeugt die Parteibasis - aber auch die Briten?
«Es gibt begründete Zweifel, ob die Konservative Partei oder der erfolgreiche Kandidat die «Flitterwochen» geniessen kann», sagt der Autor Mark Garnett, der mehrere Bücher über britische Politik geschrieben hat, der Deutschen Presse-Agentur. Denn unklar ist, ob sich Truss - oder doch Sunak - bei den enormen Herausforderungen auf ihre Partei verlassen kann. Die Tories seien pragmatisch, sie würden sich schnell zusammenraufen, meint zwar der Politologe Matthew Flinders von der Universität Sheffield. Andere aber sind skeptischer.
Die Spaltungen innerhalb der Partei seien offengelegt worden, sagt Garnett. Der frühere Tory-Abgeordnete Robert Hayward sagte der Nachrichtenagentur PA, die wahrscheinliche Siegerin Truss starte mit einem riesigen Nachteil: Sie habe keinesfalls automatisch die Mehrheit ihrer Fraktion hinter sich. So sagte der einflussreiche Ex-Minister Michael Gove jüngst, er werde nicht zwingend für Truss' Budgetpläne stimmen. Der Wahlkampf, bei dem es vor allem zu Beginn zu harten persönlichen Attacken kam, hat der Partei schwer zugesetzt.
Auch wenn Truss offenbar die Parteibasis von sich überzeugt hat, bedeutet das noch lange nicht, dass sie auch bei den anderen Britinnen und Briten ankommt. «Ironischerweise sind genau die Gründe, wegen denen Liz Truss seit Beginn als klare Favoritin im Finale galt, dieselben, warum sie Probleme haben wird, die Zustimmung der Nicht-Konservativen zu bekommen», sagt Experte Garnett. «Sie hat direkt an die nationalistischeren, neoliberalen Konservativen appelliert, die vielleicht die Mehrheit in der Partei stellen, aber nicht die Ansichten der Durchschnittswähler widerspiegeln.»
Johnson bleibt Abgeordneter
Ausserdem hat sich Truss - anders als Sunak - nicht von Johnson distanziert. Auch das hilft der Aussenministerin nach Einschätzung von Analysten bei der Zustimmung der Johnson-begeisterten Basis. Enge Vertraute des scheidenden Premiers wie Kulturministerin Nadine Dorries oder Staatssekretär Jacob Rees-Mogg könnten im Kabinett «als Brücke zu Boris» dienen, sagt Politologe Flinders.
Johnsons Aus dürfte nicht sein politisches Ende bedeuten. Sein Mandat im Parlament behält der frühere Londoner Bürgermeister und Aussenminister. Von einem Platz auf den hinteren Bänken könnte er die Regierung mit seinem Gefühl für den richtigen Zeitpunkt vor sich hertreiben, sagt Politologe Flinders voraus. Johnsons langjähriger Weggefährte Jonathan Marland zeigte sich in der BBC zuversichtlich, dass der Abschied nur vorübergehend sein werde. Es bestehe eine «eindeutige Möglichkeit», dass Johnson zurückkehre, sagte Marland.
Auch Experte Garnett rechnet damit. «Er sehnt sich nach Applaus, und die Umstände seines Abschieds waren demütigend.» Jedes Problem, auf das Johnsons Nachfolger stossen, werde die Rufe nach ihm lauter werden lassen. Zumal viele Tories noch immer Johnson für einen Siegesgarant halten - und denken, dass sie nur mit ihm die kommende Parlamentswahl gewinnen können, die spätestens im Januar 2025 stattfinden muss.
Andere urteilen härter. Der «Narzisst aus Nummer 10» habe versagt, schrieb der «Financial Times»-Autor Henry Mance. Das habe man aber vorher wissen können. «Johnson zum Premierminister zu machen, war, wie Wackelpudding als Hauptgericht bei einem Staatsbankett zu servieren. Und nachdem die Gäste es gegessen haben, zu enthüllen, dass die Küche gegen E.coli-Bakterien-Richtlinien verstossen hat.»