Krise in Kasachstan: Wer protestiert - und wer profitiert
Kasachstan kommt nicht zur Ruhe: Bei den Ausschreitungen geht schon seit Tagen Militär gegen Demonstranten vor. Dem autoritären Präsidenten kommen die Proteste gar nicht unrecht, meinen Experten.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Ereignisse in der zentralasiatischen Ex-Sowjetrepublik Kasachstan überschlagen sich: Aus Protesten gegen deutliche Gaspreis-Erhöhungen sind schwerste Ausschreitungen mit Toten und Verletzten geworden.
Viele Demonstranten gehen friedlich gegen die autoritäre Staatsführung auf die Strasse, daneben liefern sich bewaffnete Mobs Gefechte mit Sicherheitskräften. Präsident Kassym-Schomart Tokajew entliess die Regierung, setzte Militär ein und rief unter anderem russische Soldaten zur Hilfe. Am Freitag schliesslich erliess er den Befehl, «ohne Vorwarnung» auf Demonstranten zu schiessen. International sorgte das für viel Entsetzen. Zur Lage in dem neuntgrössten Land der Erde einige Fragen und Antworten:
Wie haben sich die Proteste entwickelt?
Seit Jahren sind viele Kasachen frustriert von Korruption und Machtmissbrauch in ihrer Heimat. Die gestiegenen Preise für Treibstoff an den Tankstellen seien da für viele nur symptomatisch gewesen, meinen Experten. Zu beobachten sei «die Unzufriedenheit mit der Tatsache, dass einerseits das Land über hohe Erdöl- und Gasvorkommen verfügt, dass die Gewinne daraus aber nur bei sehr wenigen ankommen», sagt Andrea Schmitz, Zentralasien-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik, der Deutschen Presse-Agentur.
Mittlerweile gibt es keine Bilder von grossen Demonstrationen mehr. In den vergangenen Tagen starben offiziellen Angaben zufolge mehr als 40 Menschen; es gab zahlreiche Verletzte und mehr als 4400 Festnahmen. Immer wieder tauchen in sozialen Netzwerken Videos auf, auf denen Schussgeräusche und Schreie zu hören sind.
Wer sind die Demonstranten?
Auch wenn Tokajew und Staatsmedien immer wieder von bewaffneten «Terroristen» sprechen: Vielerorts halten Menschen unabhängigen Nachrichtenkanälen zufolge weiterhin kleinere, friedliche Kundgebungen ab. In der Nacht zum Samstag hätten sich etwa in Schangaösen im Westen des Landes rund 1000 friedliche Demonstranten gewaltfrei versammelt, schrieb das Portal Orda auf Telegram. Landesweit gibt es bei solchen Veranstaltungen Festnahmen.
Heftige Zusammenstösse ereigneten sich in der Wirtschaftsmetropole Almaty. Bereits seit Tagen geht dort das Militär gegen Zivilisten vor. Doch es ist unklar, wer die Menschen sein sollen, die dort angeblich militanten Widerstand gegen Sicherheitskräfte leisten. Mitunter war es fast unmöglich, verlässliche Informationen zu bekommen.
Warum ist die Quellenlage so schwierig?
Die autoriären kasachischen Behörden haben vielerorts immer wieder das Internet abgestellt. Die Ex-Sowjetrepublik hat zudem die Grenzen für Ausländer geschlossen. In Almaty ist die Mobilfunkverbindung ständig unterbrochen. Unabhängige Journalisten und Beobachter dort vor Ort zu erreichen, war zuletzt kaum möglich.
Verfügbar sind vor allem Darstellungen von Behörden, Staatsmedien - und dem Präsidenten selbst. Doch an denen gibt es zumindest erhebliche Zweifel. So behauptete Tokajew etwa, 20 000 «Banditen» hätten Almaty angegriffen. Der kasachische Politologe Marat Baschimow hingegen meint, derart viele Terroristen hätten im Vorfeld wohl schwerlich von den gut aufgestellten kasachischen Sicherheitsorganen unbemerkt agieren können.
Welche Absichten verfolgt Tokajew?
Seit dem Rücktritt des ersten kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew ist Tokajew zwar Staatschef. Wesentliche Vollmachten aber blieben bei dem 81-jährigen Nasarbajew, weshalb es in dem Land im Grunde zwei Machtzentren gab. Tokajew steht im Ruf, wichtige Reformen auch mit Rücksicht auf seinen politischen Ziehvater verschleppt zu haben. Durch die nie dagewesenen blutigen Unruhen in Almaty entsteht nun ein neues System mit Tokajew im Zentrum. Der frühere Diplomat zog im Grunde parallel zu den Protesten eine Palastrevolution durch, indem er Nasarbajews Machtbasis weitgehend zerstörte.
Der 68-jährige Tokajew entliess nicht nur die Regierung des Nasarbajew-Vertrauten Askar Mamin. Der Präsident übernahm von Nasarbajew auch den mit grosser Machtfülle ausgestatteten Vorsitz in Sicherheitsrat. Und er ersetzte die mächtige Geheimdienstführung durch eigene Vertraute. Ex-Geheimdienstchef Karim Massimow wurde wegen Hochverrats festgenommen. In nur wenigen Tagen habe Tokajew Nasarbajews Ära endgültig beendet, schreiben Experten der Denkfabrik Moskauer Carnegie Center in einer Analyse. Der Präsident habe wahrscheinlich am meisten durch die Krise gewonnen.
Kommt Putin die Krise gelegen?
Das öl- und gasreiche Land mit Zugang zum Kaspischen Meer ist für Russland der wichtigste Verbündete in der Region Zentralasien. In der kasachischen Steppe liegt auch Russlands Weltraumbahnhof Baikonur, ein strategisch wichtiges Objekt. Zwar ist Russland in zahlreichen Krisen eingebunden wie etwa in Syrien. Aber Kasachstan ist eine weitere Gelegenheit für Putin, Stärke zu zeigen. Zudem hebt er die Bedeutung der von Russland dominierten Organisation des Vertrags über die kollektive Sicherheit, einer bisher eher zahnlosen Antwort auf die Nato, die nun den Militäreinsatz führt.
Putin dürfte Vorteile durch den Einsatz sehen, weil Russland sich als Garant von Stabilität in Zentralasien zeigen kann. Durch die Unterstützung für Tokajew erhält er sich ein russlandfreundliches System in Kasachstan. Das war schon bei der Hilfe für den als «letzten Diktator Europas» kritisierten Alexander Lukaschenko in Belarus zu sehen. Kremlkritiker in Moskau betonen, dass Putin durch den Militäreinsatz auch ein Signal an Gegner im eigenen Land sende, dass er um keinen Preis von der Macht lassen und sie notfalls mit Gewalt durchsetzen werde - wie in Belarus und in Kasachstan.
Wie wird es nun weitergehen?
Durch sein insgesamt hartes Durchgreifen dürfte sich der frühere Diplomat Tokajew nun als ein Politiker profilieren, der mit Einschüchterung und harter Hand regiert. Die Experten des Carnegie-Zentrums erwarten keine grundlegenden Reformen, sondern vielmehr wie zuletzt in Belarus eine «Verhärtung des Regimes» und Druck auf Andersdenkende. Allerdings ist damit nicht die schwere wirtschaftliche Krise im Land, die sich durch die Lockdowns in der Pandemie verschärfte, gelöst.