Nawalny-Tochter «fing an, überall Agenten zu sehen»
Ihr Vater sitzt wegen seiner Opposition gegen den Kreml in einem russischen Gefängnis. Jetzt erzählt Alexej Nawalnys Tochter von ihrer Kindheit in Russland.
Das Wichtigste in Kürze
- Am Mittwoch nahm Darja Nawalnaja für ihren Vater den Sacharow-Preis entgegen.
- In einem Interview sprach sie ausserdem über ihre Kindheit und die Angst um ihren Vater.
- Der russische Oppositionsführer Alexej Nawalny sitzt seit Anfang Jahr im Gefängnis.
Im Januar 2021 kehrte der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny nach Moskau zurück und wurde umgehend verhaftet. Seither sitzt er im Gefängnis.
Nun verlieh ihm das Europaparlament den Sacharow-Preis, den seine Tochter Darja Nawalnaja am Mittwoch in Strassburg für ihn entgegennahm. Im Interview mit dem «Spiegel» sprach sie zudem über ihre Kindheit in Russland und die Angst um ihren Vater.
«Als ich zehn Jahre alt war, kam Papa zum ersten Mal in Arrest», erzählt die 20-Jährige. Ihre Eltern hätten ihr damals erklärt, dass Nawalny etwas Richtiges tat, auch wenn ihn die Polizei nicht möge. «Darauf war ich immer stolz, bei aller Angst um sein und unser Leben», sagt sie.
Nawalnaja meint, sie habe aber erst im Jahr 2017 wirklich verstanden, welche Gefahr der Gesundheit ihres Vaters drohte. Damals spritzten Gegner des Oppositionsführers ihm Desinfektionsmittel ins Gesicht. Seine Tochter erinnert sich: «Eine grosse Operation war nötig, um die Hornhaut des Auges zu retten, es war richtig gefährlich.»
Vor der Giftattacke im August 2020 hatte Nawalnaja ihren Vater länger nicht gesehen. Die Russin studiert nämlich seit 2019 Psychologie an der Elite-Universität Stanford (Kalifornien) und verbrachte einen Grossteil des Jahres in den USA.
Nawalnys Tochter erfuhr von Anschlag via Twitter
«Ich wachte auf, öffnete Twitter und fand lauter Nachrichten darüber, dass etwas im Flugzeug geschehen sei. Dass Alexej Nawalny umgefallen sei und im Krankenhaus liege», berichtet sie über den Tag des Anschlags. Sie habe gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem jüngeren Bruder in Moskau darauf gewartet, dass er von einer Dienstreise zurückkehre.
Später habe Nawalnaja ihren Vater im Spital in Deutschland besucht. Dessen Zustand nach dem Angriff mit dem Nervengift habe sie schockiert: «Er konnte keine zwei Sätze hintereinander herausbringen. Es war fürchterlich. Ich habe damals nicht gedacht, dass er sich so schnell erholt.»
Neben den Sorgen um ihren Vater löste der Anschlag aber auch paranoide Gedanken bei der 20-Jährigen aus. «Ich fing an, überall Agenten zu sehen. Ich dachte: Wenn sie das in Russland machen konnten, wer kann sie daran hindern, Papa im deutschen Krankenhaus aufzusuchen und die Sache zu Ende zu bringen?», erzählt sie dem «Spiegel».
Dennoch überzeugt der Vergiftungsversuch sie nur noch weiter von der Sache ihres Vaters. «Ich fürchte zwar um sein Leben, aber es heisst auch: Er macht etwas Richtiges», erklärt sie.
Gefängnisbesuch nur selten möglich: «Das macht mich traurig»
Seit Nalwalnys Verhaftung konnte seine Tochter ihn aber bislang nur zweimal in der berüchtigten Strafkolonie Pokrow besuchen. «Das macht mich traurig», sagt Nawalnaja. «Die Treffen dauern vier Stunden, und dann denke ich mir: Wann sehe ich ihn das nächste Mal?»
Die Zeit im Gefängnis habe den Oppositionsführer aber bislang noch nicht allzu sehr mitgenommen. «Ich glaube, er ist derselbe wie früher (...) Er ist ein sehr aktiver Mensch und platzt vor Ideen, was er tun könnte.»
Auf Nawalnaja haben die Erlebnisse aber doch einen grossen Einfluss gehabt und ihre Perspektive auf das Leben verändert: «Mir war früher immer wichtig, ein intellektueller Mensch zu sein, zu lesen, Filme zu schauen. Jetzt denke ich, Zeit mit seinen engsten Freunden und Angehörigen zu verbringen, ist viel wichtiger.»