Schutzlos ausgeliefert: Heimbewohner erfahren oft Gewalt
Gewalt in Sondereinrichtungen: Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt sollen Menschen mit Behinderung Übergriffen oft schutzlos ausgeliefert sein. Reichen Forderungen nach mehr Vorsorge?
Das Wichtigste in Kürze
- Misshandlungen, Verbrühungen, Erniedrigungen - Fälle von Gewalt gegenüber Menschen mit Behinderung ereignen sich laut Bundesregierung und Menschenrechtsexperten oft im Dunkeln.
Insgesamt hätten hunderttausende Menschen in Sondereinrichtungen selten die Chance, ihre Rechte geltend zu machen, stellten der Bundesbehindertenbeauftragte Jürgen Dusel und das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) in Berlin fest.
«Menschen in Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe erfahren unterschiedliche Formen von Gewalt - darunter psychischen Druck, körperliche und sexualisierte Gewalt», sagte die DIMR-Expertin Britta Schlegel. Dusel kritisierte, Schutzkonzepte gäbe es bisher oft nur auf dem Papier. Seit Juni 2021 sind Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen zu Schutzmassnahmen verpflichtet.
Verschiedenste Formen von Gewalt
Ein seit Juli 2021 betriebenes Rechercheprojekt geht von einem «grossen Ausmass von niedrigschwelliger bis hin zu schwerer psychischer, körperlicher und sexualisierter Gewalt in Einrichtungen» in Deutschland aus. Aufgelistet werden unter anderem Fälle von Misshandlungen, Verbrühungen und Erniedrigungen.
Dusel und Schlegel gaben Handlungsempfehlungen zur mehr Gewaltschutz heraus, in denen sie auf die «grosse Bedeutung» dieser und weiterer Recherchen hinwiesen. Es gehe darum, erst einmal die Aufmerksamkeit für die Missstände zu erhöhen.
Experten gehen von hoher Dunkelziffer aus
Schlegel betonte zwar, es gebe keine aktuellen Erhebungen über das Ausmass der Gewalt. Sie ging aber über die bekannt werdenden Fälle hinaus von einer hohen Dunkelziffer aus. Übergriffe und Demütigungen könnten von Beschäftigten der Einrichtungen ebenso ausgehen wie von anderen Bewohnerinnen und Bewohnern.
«In Einrichtungen lebende Menschen suchen selten selbst Rechtsschutz», erläuterten Schlegel und Dusel. «Das Leben in Abhängigkeitsverhältnissen und das fehlende Wissen um die eigenen Rechte und Beschwerdemöglichkeiten verhindern dies.»
Rund 330.000 Menschen mit Behinderungen sind in Werkstätten beschäftigt. Rund 200.000 leben in speziellen Wohneinrichtungen, vielfach arbeiten sie zugleich in Werkstätten.
Das DIMR und der Beauftragte Dusel begrüssten das Koalitionsvorhaben, verbindlichere Massnahmen zur Verhinderung von Gewalt voranzutreiben. Zugleich wiesen sie darauf hin, dass Forderungen nach mehr Vorsorge in den speziellen Einrichtungen aus ihrer Sicht nicht alles seien.
«Auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft ist ein umfassender Gewaltschutz in Einrichtungen nur der erste wichtige Schritt», stellten sie fest. Schrittweise müssten Sondereinrichtungen komplett abgebaut werden.