Die Front in der Ostukraine westlich von Donezk ist in Bewegung geraten – mit Moskaus Truppen, die seit Jahresbeginn langsam voranschreiten.
Ukraine-Krieg
Ein Panzer in der Ostukraine. (Archivbild) - Keystone

Die Front in der Ostukraine ist westlich der bereits seit 2014 von russischen Kräften besetzten Grossstadt Donezk in Bewegung geraten. Langsam, aber stetig rücken die Truppen Moskaus seit Jahresbeginn vor. Der Raumgewinn von etwas mehr als 30 Kilometer seit dem Fall der Festung Awdijiwka bedeutet keinen Durchbruch, aber er nagt am Selbstvertrauen der ukrainischen Verteidiger.

Dorf um Dorf müssen sie aufgeben. Was die russischen Angreifer dann einnehmen, erinnert in den wenigsten Fällen noch an menschliche Behausungen. Ruinen, teilweise zu Steinhaufen zerbombte Häuser und versengte Erde sind die Trophäen dieses alles zermalmenden Angriffskriegs.

Es gibt Gründe für das Wanken der Front, die zuvor an diesem Abschnitt in einem festen Stellungskrieg verharrte. Zunächst startete Kiew, seine Kräfte überschätzend, nach verspäteten westlichen Panzerlieferungen im vergangenen Sommer eine Offensive zur Befreiung der Südukraine. Diese traf auf gut vorbereitete russische Verteidigungslinien und endete mit hohen Verlusten weitgehend ergebnislos in der Steppe von Saporischschja.

Pause bei US-Waffenlieferungen fatal für Kiew

Viel schlimmer jedoch für die Ukraine war die anschliessende Blockade der US-Militärhilfen durch die Republikaner im Kongress. Monatelang sperrte sich die Partei – getrieben von den Präsidentschaftsambitionen Donald Trumps – gegen die Lieferung der in der Ukraine dringend benötigten Waffen, Ausrüstung und Munition. Kiew habe in der Zeit praktisch alle verfügbaren eigenen Reserven aufgebraucht, um die Front zu halten, bekannte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj unlängst.

Auch ungenügend ausgebildete und ausgerüstete Einheiten mussten in den Kampf. Dies führte dann zum Verlust der wichtigen Festung Awdijiwka unmittelbar nordwestlich von Donezk. Die Stadt hatten die Ukrainer seit 2014 zu einem Bollwerk gegen den erwarteten russischen Angriff ausgebaut.

Aber nur dank dieser ausgetüftelten vielerorts unterirdischen Verteidigungsstellungen konnten sie die materielle und personelle Überlegenheit der Russen lange kompensieren. Nach dem Fall von Awdijiwka hatten die ukrainischen Streitkräfte keine gleichwertig ausgebauten Verteidigungslinien im Hinterland. Sodass sie nun dem Strom russischer Angriffe weichen müssen.

Keine Antwort auf Gleitbomben

Hinzu kommt eine neue «Geheimwaffe» der russischen Streitkräfte: Gleitbomben. Flugzeuge werfen diese Bomben viele Kilometer von den eigentlichen Frontstellungen entfernt ab. Für die Flugabwehr sind diese Kampfjets unerreichbar.

Die Gleitbomben wurden während des Kriegs so weiterentwickelt, dass sie einigermassen präzise ins Ziel steuern. Auch wenn es bereits mehrere Berichte gab, dass einige dieser Bomben etwa das russische Belgorod – immerhin 30 Kilometer von der Grenze entfernt – getroffen haben. Die Gleitbomben sollen mit ihrer enormen Sprengkraft zur Zerstörung der Festungsanlagen von Awdijiwka beigetragen haben. Die nun notdürftig neu aufgebauten Verteidigungsanlagen vernichten sie noch schneller.

Forderung nach weitreichenden Waffen

Auch deshalb drängt die Ukraine immer wieder auf die Freigabe weitreichender westlicher Waffen für Schläge gegen russisches Gebiet. Dort stehen die russischen Bomber und Kampfjets relativ unbehelligt auf den Militärflugplätzen, bevor sie mit ihrer tödlichen Last an Bord zu neuen Einsätzen in der Ukraine aufbrechen. Schläge gegen diese Flugplätze sollen nach Einschätzung Kiews Russlands Vorteil brechen.

Mit den selbst gebauten Drohnen ist Kiew bisher nicht in der Lage, dieses Übergewicht zu stoppen. Der militärische Chefkoordinator der deutschen Ukraine-Hilfe, Christian Freuding, war vor einer Woche in Kiew und traf am Rande einer sicherheitspolitischen Konferenz Vertreter von Militär und Politik. Der Generalmajor berichtet von einem seit Monaten hohen Druck auf die ukrainischen Verteidiger in Donbass, die durch «Verzögerungsgefechte, die Lage einigermassen stabilisieren», aber zurückweichen müssen.

Westlich von Pokrowsk begünstigt das Gelände den Angreifer

Die Verteidigungslinien seien nur noch etwa fünf bis zehn Kilometer vor der Ortschaft Pokrowsk entfernt. Einem für die Versorgung der Truppe wichtigen Verkehrsknotenpunkt. Dieser erlaube es den Ukrainern auch, schnell Truppenteile von West nach Ost und von Nord nach Süd zu verschieben.

«Pokrowsk ist auch deshalb von Bedeutung, weil in diesem Raum durch Kohleabbau die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Metallindustrie liegen. Wenn der Raum Pokrowsk durch Russland genommen werden kann, dann hat das militärisch-operative Folgen, wird aber auch sozio-ökonomische Folgen haben», sagt er. Und: «Westlich von Pokrowsk öffnet sich das Gelände und es begünstigt den Angreifer, sodass durchaus das Risiko besteht, dass Russland weitere Geländegewinne erzielen kann.»

Ukrainer gehen bei Kursk «ein bewusst hohes Risiko» ein

Der Überraschungsangriff ukrainischen Streitkräften auf das russische Grenzgebiet bei Kursk habe keine Entlastung für die heftig unter Druck geratenen ukrainischen Verteidiger im Donbass gebracht, sagt er. Es seien Kräfte Richtung Kursk umgeleitet, aber keine russischen Kampftruppen aus dem Donbass abgezogen worden.

«Aufgegangen ist die Rechnung der Ukrainer beim Überraschungseffekt, bei der Möglichkeit, ein Faustpfand in die Hände zu bekommen», sagt Freuding. Ziel könne sein, das eingenommene Gebiet als Verhandlungsgegenstand im Falle einer Öffnung zu einem wie auch immer zu gestaltenden politischen Prozess in der Hand zu haben.

Der General, der auch während des Beginns der Kursk-Offensive in der Ukraine war, sprach mit Befehlshabern. «Die Ukrainer gehen damit ein hohes, ein bewusst hohes Risiko ein. Sie wussten und wissen genau, was sie tun», sagt er. Zum Rational gehöre auch das Signal der Handlungsfähigkeit an die eigene Bevölkerung wie auch die Partner.

Die Militärhilfe soll auf mehr und andere Schultern verteilt werden

International sind die Weichen für eine Verstetigung der Finanzhilfen zur Verteidigung der Ukraine gestellt. Über Zahlungsmechanismen auf Ebene der EU und der G7 sollen künftig Gelder im mittleren zweistelligen Milliardenbereich fliessen. Deutschland – nach den USA bislang der zweitgrösste Geber – ist in einer Führungsrolle bei dieser Aufgabe.

Zum Zweiklang gehört auch, dass die Diplomatie eine neue Chance erhalten soll. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) schlug dazu eine Friedenskonferenz vor. «Ich glaube, das ist jetzt der Moment, in dem man auch darüber diskutieren muss, wie wir aus dieser Kriegssituation doch zügiger zu einem Frieden kommen, als das gegenwärtig den Eindruck macht», sagte er im ZDF-Sommerinterview. Der Kreml reagierte zurückhaltend.

Russland hat seine «eigene Mathematik»

Die Ukraine steuert auf den dritten, bitteren Kriegswinter zu. Mit zusätzlicher Luftverteidigung soll schon bald die Abwehr russischer Angriffe auf Infrastruktur und Energieversorgung besser werden. Dass die russische Führung aus der eigenen Bevölkerung unter Druck kommen könne und einen Kurswechsel vollziehen müsse, ist kaum zu erwarten.

Freuding sagt dazu: «Wenn wir mit unserer westlichen Einstellung, mit unserem westlichen Blick immer gedacht haben, die russische Gesellschaft erträgt auch nur eine bestimmte Anzahl an Opfern, dann müssen wir jetzt erkennen, dass Russland seine eigene Mathematik hat.»

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