Die Bürgermeisterwahl in Istanbul wurde annulliert. Für Türkei-Kenner Christoph Ramm nur ein weiterer Schritt in Richtung Ende der türkischen Demokratie.
Erdogan Türkei Istanbul
Recep Tayyip Erdogan, Staatspräsident der Türkei, verlässt eine Wahlkabine während der Kommunalwahlen. - DPA

Das Wichtigste in Kürze

  • Das Wahlergebnis um den Bürgermeistersitz in Istanbul wurde annulliert.
  • Ein AKP-Mitglied verkündete am Montag den Entschluss.
  • Für den Türkei-Kenner kann die jüngste Entwicklung eine Chance sein.
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Bei den letzten Wahlen in Istanbul vor rund einem Monat verlor Erdogans Partei die AKP. Stattdessen gewann die Opposition. Am Montag wurde kurzerhand die Wahl von der Kommission annulliert. Nun fordert die Opposition aus denselben Gründen wie die AKP, dass die Präsidentenwahl annulliert wird.

Nau hat mit Christoph Ramm von der Universität Bern über die Annullierung gesprochen. Ramm forscht unter anderem zur Türkei.

Nau.ch: Hat Sie die Annullation der Wahl überrascht?

Christoph Ramm: Nicht wirklich. Bereits im Vorfeld wurde von Erdogan und der AKP viel Druck auf die Wahlbehörde ausgeübt. Es war eine voraussehbare Option.

Nau.ch: Ist es rechtens, dass die Wahl annulliert wurde?

Ramm: Ich halte dies für einen dubiosen Entscheid. Diese Einschätzung stützen auch türkische Rechtsexperten. Politisch gesehen ist der Vorwurf der Manipulation absurd. 25 Jahre lang war die AKP in Istanbul an der Macht. Dass es dort zu einer Manipulation durch die Opposition gekommen sein soll, ist mehr als fragwürdig.

Christoph Ramm
Christoph Ramm hat in türkischer Geschichte doktoriert. - Universität Bern

Nau.ch: Wird damit die eher fragile türkische Demokratie gefährdet?

Ramm: Die türkische Demokratie ist bereits länger gefährdet und unter Druck. Ein einschneidender Moment war etwa die Einführung des Präsidialsystems per Referendum 2017. Die Annullation ist «nur» ein weiterer Sargnagel bei der Beerdigung der türkischen Demokratie.

«Erdogan untergräbt seinen Mythos»

Nau.ch: Was ist Erdogans Rolle in der Beerdigung der türkischen Demokratie?

Ramm: Erdogan untergräbt die Demokratie – und gleichzeitig seinen Mythos. Ein wesentlicher Teil seines Mythos ist, dass er bisher immer relativ freie Wahlen gewann. Die Wahlwiederholung in Istanbul schadet dem Bild des unantastbaren Präsidenten und sät Zweifel an seiner demokratischen Legitimation.

Kommunalwahlen Türkei
Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan schwenken nach den Kommunalwahlen Fahnen mit dessen Konterfei. - DPA

Nau.ch: Stellt die Wahlannullation eine Zäsur dar?

Ramm: Ja. Nicht nur Oppositionellen, auch früheren AKP-Wählern wird vermittelt, dass ihre Stimme nichts zählt. Beim Wahlergebnis spielten AKP-Anhänger eine Rolle, die nicht mehr wählen gingen oder für die Opposition stimmten. Gerade die wirtschaftliche Krise ist besorgniserregend für die Mittelschicht. Jene Mittelschicht, die Erdogans mit seiner Politik geschaffen hat. Diese Leute sind ernüchtert

Nau.ch: Wie muss man den Vorgang in der jüngsten türkischen Geschichte einordnen?

Ramm: Man kann bis zur Gründung der türkischen Republik zurückgehen. Die frühe Republik Atatürks war über weite Strecken eine Einparteienherrschaft. Im Mehrparteiensystem seit 1945 haben sich immer wieder pluralistische Phasen mit Militärputschen und autoritären Tendenzen abgewechselt. Die ersten zehn Jahre der AKP-Regierung waren eine Periode der politischen Vielfalt. Die Demokratie war sehr lebendig. Jetzt erleben wir eine Art Backlash, wo im Zweifel wieder das Wohl des Staats über dem der Bevölkerung steht.

Nau.ch: War die autoritäre Ausrichtung des Staats schon immer Erdogans Ziel?

Ramm: Das ist eine schwierige Frage. Am Anfang setzten Erdogan und seine Partei viel auf die Demokratie. Schlussendlich profitieren sie von den freien Wahlen und wären wegen ihrer islamischen Ausrichtung sonst nicht an die Macht gekommen. Ob der Umbau ins Autoritäre immer der Plan war, kann nicht abschliessend beantwortet werden.

Türkei Istanbul
Ex-Wahlsieger Ekrem Imamoglu von der sozialdemokratischen CHP spricht zu Medienvertretern. - DPA

Nau.ch: Besteht nun, nach dem zweifelhaften Entscheid und der Einigung der Opposition, eine Chance auf Öffnung?

Ramm: Auf jeden Fall. Die Opposition ist motiviert. Zudem sollte man die enttäuschten AKP-Anhänger nicht vergessen. Ausserdem erheben Intellektuelle – nach einer langen Phase der Resignation – wieder lauter ihre Stimme. Man wird aber nach der Wiederholungswahl sehen, was daraus wird.

Nau.ch: Wie geht es mit dem Land nun weiter?

Ramm: Das ist schwer zu sagen. Die Wirtschaft, eine zentrale Säule von Erdogans Erfolg, hat grosse Probleme. Zudem zeigen sich erste Risse innerhalb der Regierungspartei AKP. Ein Flügel lehnt die Beschädigung des Wahlsystems ab. Ausserdem hat Erdogans One-Man-Show viele altgediente Parteigrössen an den Rand gedrängt, was diesen sauer aufstösst. Nun wird der Präsident nicht mehr nur im Geheimen kritisiert.

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