Scharfe Kritik an Wahl-Annullierung in Istanbul

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Türkei,

Abschaffung der Demokratie und «Putsch» - die Annullierung der Bürgermeisterwahl in Istanbul stösst auf heftige Kritik. Die Wirtschaft ist besorgt. Die Opposition aber gibt sich kämpferisch.

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Recep Tayyip Erdogan winkt Anhängern im Parlament. (Archivbild) - dpa-infocom GmbH

Das Wichtigste in Kürze

  • Die Entscheidung der türkischen Wahlbehörde zur Annullierung der Bürgermeisterwahl in Istanbul zugunsten der Regierungspartei ist auf scharfe Kritik gestossen.

Bundesaussenminister Heiko Maas (SPD) sagte, der Beschluss der Hohen Wahlkommission sei «für uns nicht transparent und nicht nachvollziehbar». Die Opposition sprach angesichts der Neuwahl von einem , gab sich aber auch kämpferisch.

Für Präsident Recep Tayyip Erdogan ist die Annullierung der Wahl dagegen ein «wichtiger Schritt für unsere Demokratie». Er wies zudem Kritik von Unternehmern zurück, die befürchten, dass sich die wirtschaftliche Lage angesichts der politischen Unsicherheit weiter verschlechtern könnte.

Die Hohe Wahlkommission hatte am Montag die Bürgermeisterwahl vom 31. März in Istanbul für ungültig erklärt und eine Wiederholung am 23. Juni angeordnet. Sie beschloss ausserdem, das Mandat Ekrem Imamoglus zu annullieren. Der Kandidat der grössten Oppositionspartei CHP hatte die Bürgermeisterwahl knapp vor Ex-Ministerpräsident Binali Yildirim gewonnen. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete, das Innenministerium habe den Provinzgouverneur Ali Yerlikaya als Interimsbürgermeister eingesetzt, der seine Arbeit ab sofort aufnehme. Gouverneure in der Türkei werden von Erdogan ernannt, der damit die Kontrolle über Istanbul zurückerhält.

Imamoglu traf sich am Dienstag mit seiner Partei in Ankara, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Die CHP entschied sich gegen einen Boykott der Neuwahl. Nach dem Treffen kritisierte Imamoglu: «Man hat unserer Demokratie einen harten Schlag versetzt. Diesen Prozess müssen wir alle gemeinsam reparieren und behandeln.» Er zeigte sich aber auch zuversichtlich und sagte: «Es wird alles gut.» Der Satz, den Imamoglu schon am Montag bei einer Rede benutzt hatte, wurde über Nacht zum neuen Wahlkampfslogan der Opposition.

Zahlreiche Künstler folgten am Dienstag dem Aufruf Imamoglus, Stellung zu beziehen. Sie bekundeten via Twitter unter dem Hashtag #herseygüzelolacak (#alleswirdgut) ihre Unterstützung. Darunter waren der auch in Deutschland bekannte Popsänger Tarkan. Die pro-kurdische Oppositionspartei HDP und die nationalkonservative Iyi-Partei stellten sich ebenfalls hinter Imamoglu. CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu sagte: «Macht was ihr wollt, wir werden auch aus dieser Wahl als Gewinner hervorgehen.»

Erdogan verteidigte am Dienstag den Antrag auf Wahlwiederholung seiner Regierungspartei AKP und sagte: «Wir glauben aufrichtig daran, dass es bei den Wahlen in Istanbul eine organisierte Korruption, eine totale Gesetzlosigkeit und Rechtswidrigkeit gegeben hat.» Die Wahlkommission hatte ihre Entscheidung in einem Schreiben an die Parteien am Montag mit einem Kritikpunkt der AKP begründet, wonach die Wahlräte teils rechtswidrig zusammengestellt worden seien. Auf eine öffentliche Stellungnahme verzichtete der Kommissionschef Sadi Güven jedoch.

Anleger sorgen sich unterdessen um die politische Stabilität in der Türkei und einen weiteren Verfall der Lira, die zum Wochenbeginn zum US-Dollar auf den tiefsten Stand seit Oktober 2018 gefallen war. Der türkische Wirtschaftsverband Tüsiad mahnte, in einer Zeit, in der man sich auf «umfangreiche wirtschaftliche und demokratische Reformen konzentrieren» müsse, sei die «Rückkehr in eine Wahlatmosphäre besorgniserregend.» Erdogan wies die Kritik aus der Wirtschaft zurück und sagte: «Ihr begeht einen Fehler. Jeder muss seine Grenzen kennen», sagte er. Die Unternehmer sollten lieber ihre Arbeit machen.

Der Vorsitzende der türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu, äusserte sich am Dienstag ebenfalls besorgt. Zur Wahl-Annullierung sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND): «Sie schadet der türkischen Wirtschaft, dem türkischen Ansehen und damit der Türkei insgesamt.» Die stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion, Sevim Dagdelen, sprach von einem «Putsch gegen die Demokratie».

Bundesaussenminister Maas kritisierte weiter, dass allein die türkischen Wähler über die Besetzung des Oberbürgermeisteramts in Istanbul entschieden. «Die Einhaltung demokratischer Grundprinzipien mit transparenten Wahlbedingungen hat aus unserer Sicht oberste Priorität», sagte er. Der Europarat mahnte am Dienstag zur Einhaltung der Wahlgesetzgebung und Fairness bei der Wiederholung der Wahl am 23. Juni. Schon am Montag hatte Generalsekretär Thorbjorn Jagland die Entscheidung der Wahlkommission kritisiert.

Der Grünen-Abgeordnete Cem Özdemir forderte im Radioprogramm SWR Aktuell viele unabhängige Beobachter bei den Neuwahlen. Darauf müssten Deutschland und Europa bestehen. «Es ist zu befürchten, dass Erdogan vor keinem Trick zurückschrecken wird, um zu verhindern, dass die Opposition zu ihrem Recht kommt», sagte er. Der türkische Präsident wolle Istanbul halten, weil es in der Wirtschaftsmetropole um viel Geld und Jobs ginge. Erdogan habe Angst, dass die «schmutzigen Machenschaften der Regierungspartei AKP» aufgedeckt würden.

Istanbul wurde bis zum Wahlsieg Imamoglus 25 Jahre von islamisch-konservativen Bürgermeistern regiert. Die Niederlage für die AKP war ein Gesichtsverlust für Erdogan, der einst selbst Bürgermeister der Millionenmetropole gewesen war.

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