Wie Ankara von den Russland-Sanktionen profitiert

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Seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine gilt im Westen weitgehend die Devise: Keine Geschäfte mit Russland. Das Nato-Land Türkei geht einen anderen Weg. Und das zahlt sich für Ankara aus.

Wladimir Putin (r), Präsident von Russland, und Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, reichen sich zu Beginn eines bilateralen Treffens am Rande des Gipfels der Konferenz über Interaktion und vertrauensbildende Massnahmen in Asien (CICA) die Hände (2022).
Wladimir Putin (r), Präsident von Russland, und Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, reichen sich zu Beginn eines bilateralen Treffens am Rande des Gipfels der Konferenz über Interaktion und vertrauensbildende Massnahmen in Asien (CICA) die Hände (2022). - Vyacheslav Prokofyev/Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa

Das Wichtigste in Kürze

  • In einem Luxus-Einkaufszentrum in der westtürkischen Hafenstadt Bodrum werben Schilder mit russischer Aufschrift um Kunden.

Dass in dortigen Häfen auch die Jachten russischer, vom Westen mit Sanktionen belegter Oligarchen andocken, ist kein Geheimnis. Das Nato-Land Türkei hat seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine beiden Partnern die Treue versprochen und sich nicht an Sanktionen gegen Russland beteiligt.

Für die Türkei zahlt sich das aus. Importe aus und Exporte nach Russland haben sich innerhalb eines Jahres verdoppelt. Russland wird 2022 der grösste Handelspartner der Türkei und löst damit Deutschland ab, heisst es von der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer (AHK Türkei) in Istanbul. Auch deutsche Unternehmer in Moskau müssen zuschauen, wie nach dem Abzug westlicher Firmen unter anderem türkische und chinesische Unternehmen die Lücken füllen. Die Türkei hat Deutschland beim Verkauf von Maschinen und Ausrüstung an Russland überholt, wie das Moskauer Wirtschaftsportal rbc.ru unlängst meldete.

Galoppierende Inflation im Wahljahr

Die Türkei hat die Situation in vielerlei Hinsicht zu ihrem Vorteil gewendet. «Seit Beginn des Krieges kann die Türkei billiger Energieträger importieren», sagt Erdal Yalcin, Professor für Internationale Wirtschaftsbeziehungen an die Hochschule Konstanz und Forschungsmitglied am IfW Kiel zum Thema Internationaler Handel. Öl und Gas kamen schon vor dem russischen Angriffskrieg massgeblich aus Russland. Nun haben sich die Ölimporte 2022 in etwa verdreifacht, wie aus Daten des Statistikamtes hervorgeht. Vor dem Hintergrund einer Währungskrise und galoppierender Inflation dürfte das der Regierung in Ankara im Wahljahr 2023 gelegen kommen.

Aber auch in Russland ist die Türkei präsenter denn je: Russische Medien berichten, dass türkische Modegeschäfte – die Marke Koton zum Beispiel ersetzte Marks & Spencer – und Restaurants eröffnen.

Die Vertiefung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Türkei und Russland gebe «Anlass zu grosser Sorge», hiess es in einem Schreiben des EU-Aussenbeauftragten Josep Borrell. Ankara dürfe Russland keine Umgehungslösungen für Sanktionen anbieten. Eine etwas verquere Warnung, findet Yalcin: «Die Türkei importiert Rohöl aus Russland, bereitet es in seinen Raffinerien auf und verkauft es dann – als türkisches Produkt – nach Europa. Das ist eine Umgehung der Sanktionen in legaler Form.» Der EU als Abnehmerin könne man insofern genauso wie der Türkei einen Vorwurf machen, so Yalcin.

Türkei als wichtigstes Urlaubsland für Russen

Auch das Geschäft mit Halbleitern aus der EU ist ein Beispiel für eine Umgehung der Sanktionen in legaler Form. Die Ausfuhren der Chips von dort nach Russland seien seit zehn Monaten deutlich zurückgegangen. Gleichzeitig steige der Export der Chips in die Türkei und von dort weiter nach Russland, sagt Yalcin. «Wenn die Abnehmerin eine 100-prozentige türkische Firma ist, ist es legal.» Die Firma müsse am Produkt nur marginale Änderungen vornehmen, ein Sticker reiche.

Für Russland ist die Türkei die Retterin in der Not: Wer nach Europa will, fliegt mit grosser Wahrscheinlichkeit über die Türkei – oder bleibt gleich dort. Die Türkei ist wegen der Reisebeschränkungen in der EU das wichtigste Urlaubsland für Russen. Die Immobilienkäufe von Russen in der Türkei – die ab 500.000 Dollar gleich die türkische Staatsangehörigkeit beinhalten – sind enorm gestiegen. Von Januar bis November wurden 14.000 Immobilien an Russen verkauft. 2019 waren es 2900 Käufe.

Dass mehr Russen im Land sind, macht sich vielerorts bemerkbar. In den ersten elf Monaten 2022 wurden laut türkischer Handelskammer TOBB insgesamt 131 russische AGs und 1077 russische GmbHs in der Türkei gegründet. Zum Vergleich: Im Vor-Corona-Jahr 2019 waren es 17 AGs und 95 GmbHs. Die Türkei profitiere auch von russischem Kapital, das verstärkt in das Land fliesse. Die türkische Leistungsbilanz weise auf hohe Kapitalzuflüsse hin, dessen Ursprung nicht vollends geklärt werden kann. «Also meist Geld, das im Koffer in ein Land gebracht wird», sagt Yalcin.

Aber auch für den Westen hat sich das türkische Dazwischen stellenweise als profitabel erwiesen: Die Türkei ist bemüht, zwischen Moskau und Kiew zu vermitteln. Nicht zuletzt gilt der gute Draht des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogans zu Kremlchef Wladimir Putin als gewichtiger Grund die Fortsetzung des für die Welternährung so wichtigen Getreidedeals. Erdogans Nähe zu Putin und die gemeinsamen Treffen mit ihm sind für den türkischen Staatschef dabei innenpolitisch kaum riskant – anders als für westliche Staatschefs.

Neue Kernkraftwerke für die Türkei

Bis Ende 2030 wollen Russland und die Türkei ihr Handelsvolumen auf 100 Milliarden Dollar erhöhen. Russland will ausserdem den grössten europäischen Gasknotenpunkt in der Türkei errichten, ein Handelsplatz für Energie der Energiegrossmacht – und gleichzeitig ein langgehegter Traum Erdogans. Unter russischer Ägide entsteht zudem derzeit ein erstes, 20 Milliarden US-Dollar teures Kernkraftwerk in der Türkei, zwei weitere sind in Planung.

Verliert der Westen also gerade die Türkei als engen Handelspartner? «Kurzfristig hat die Orientierung gen Russland für die Türkei Vorzüge. Langfristig ist es aber nicht nachhaltig», meint Yalcin. Es sei der Handel mit Europa, der der Türkei langfristig die meisten Arbeitsplätze verspricht. Auch Thilo Pahl von der AHK Türkei sagt: «Deutschland ist und bleibt weiterhin der wichtigste Exportmarkt für türkische Unternehmen.»

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