Wie Kinder trotz schwerer Krankheit am Unterricht teilnehmen

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Deutschland,

Wenn Kinder wegen einer schweren Erkrankung nicht zur Schule gehen, verpassen sie nicht nur beim Lernen den Anschluss. Auch Beziehungen zu Mitschülern leiden. Ein Mini-Roboter soll das ändern.

Ein Schulavatar kann Augen und Ohren des Kindes sein.
Ein Schulavatar kann Augen und Ohren des Kindes sein. - Swen Pförtner/dpa

Das Wichtigste in Kürze

  • Ein kleiner Roboter sitzt in einer Schulklasse.

Er nimmt dort stellvertretend für ein Kind am Unterricht teil, das an Krebs erkrankt ist. An der Universitätsmedizin Göttingen werden derzeit drei Schulkinder betreut, die mit diesen Mini-Avataren am Unterricht teilnehmen.

Die Kinder selbst sind entweder zu Hause oder in der Klinik zur Behandlung – sie sind schwer krank und dürfen deshalb nicht selbst in die Schule gehen. Mit Hilfe der Technik können sie trotzdem weiter am Unterricht teilnehmen – und in Kontakt mit ihren Mitschülern und Mitschülerinnen bleiben, erklärt Julia Dolle von der Elternhilfe für das krebskranke Kind in Göttingen.

Die Elternhilfe verleiht die sogenannten Avatare an die Kinder. Das Gerät im Klassenzimmer überträgt Bild und Ton ans Handy oder Tablet des Kindes – und das kranke Kind kann den Avatar aus dem Klinikbett oder vom heimischen Sofa aus steuern und darüber mit der Klasse sprechen.

Avatar nimmt morgens im Klassenraum Platz

Vor etwa einem Jahr wurde das erste rund dreieinhalb Tausend Euro teure Gerät angeschafft. Finanziert werden die Mini-Roboter aus Spendengeldern der Elternhilfe. Einmal eingeschult, finden die Mini-Roboter ihren Platz nachts im Lehrerzimmer, wo sie dann aufgeladen werden. Und eine Lehrkraft oder ein Mitschüler kümmert sich jeden Morgen darum, dass der Avatar im Klassenraum Platz nimmt. «Für gewöhnlich in der ersten Reihe», wie Dolle erklärt, die das Projekt bei der Elternhilfe begleitet.

Das hat unter anderem damit zu tun, dass Lehrer und Lehrerinnen das kranke Kind dann besser verstehen können. Die Schulavatare können nahezu alles, was die Mitschüler vor Ort auch können. Ein Schüler, der die Technik gerade neu erhalten hat, zeigt, was sie kann: Er spricht über einen Lautsprecher, hört über ein Mikrofon und sieht über eine Kamera.

Mit Hilfe von Lichtsignalen kann sich das kranke Kind per Roboter aus dem Krankenhaus oder von zu Hause aus melden oder zeigen, dass es gerade in Ruhe gelassen werden möchte. Und mit kleinen Motoren kann sich die Plastik-Büste auch im Raum umschauen. Videomitschnitte fertigt die Technik übrigens aus Datenschutzgründen nicht an.

Auch die Mitschüler profitieren

Einzig ein Gesicht ist nicht zu sehen. Stattdessen werden schemenhafte Augen angezeigt, deren Ausdruck das Kind steuern kann. «Das hat unter anderem mit der Privatsphäre zu tun», erklärt Dolle. Schliesslich müssten die kranken Kinder etwa mit Haarverlust oder anderen schweren Symptomen ihrer Krankheit oder Behandlung umgehen.

Der erste Avatar wird nun bald wieder zurückgegeben – das betroffene Kind kann wieder zur Schule gehen. Es habe sich bereits gezeigt, dass der Schulavatar nicht nur für das Kind hilfreich sei. Auch die Mitschüler würden davon profitieren.

«Sie haben weniger Hemmungen mit dem dann wieder gesunden Kind zu sprechen, wenn es zurück in den regulären Unterricht kommt», sagt Dolle. Schliesslich sei ihr Mitschüler trotz der Krankheit nie ganz weg gewesen. In kurzen Pausen, die Schüler im Klassenraum verbringen, kann auch über Privates gesprochen werden.

Bis ein Avatar im Unterricht Platz nimmt, dauert es allerdings meist ein wenig. Für die Nutzung muss ein gutes W-Lan-Netz gestellt werden und es braucht auch die Einverständniserklärung aller Elternteile der Mitschüler. Dafür habe das System dann sogar auch einen positiven Nebeneffekt für den Unterricht, berichtet Dolle, die die Avatare vor ihrer Einschulung immer den Mitschülern zusammen mit dem kranken Kind vorstellt: «Es wird weniger getuschelt, damit das Mikrofon des Schulavatars nicht zu viele Nebengeräusche auffängt.»

Hunderte AV1-Geräte in Deutschland im Einsatz

Auch in anderen Regionen Deutschlands gibt es die Avatare bereits. Oft werden sie von Schulen, Fördervereinen oder Stiftungen finanziert. Nach Angaben des norwegischen Herstellers No Isolation sind in Deutschland zwischen 350 und 400 der offiziell AV1 genannten Geräte täglich im Einsatz, die seit 2018 in Deutschland vertrieben werden. In Niedersachsen und Bremen gibt es 32.

Die Technologie gehe weiter als einfache Videotelefonie. Sie sei «Augen, Ohren und Stimme des abwesenden Kindes im Unterricht», sagt eine Sprecherin. Die Büstenform sei so gestaltet, dass sie gross genug sei, um wahrgenommen zu werden – aber auch klein genug, um von jüngeren Schülern getragen zu werden. Durch die abstrakte Form werde klar, dass der AV1 nur die «physische Vertretung eines langzeiterkrankten Kindes im Präsenzunterricht» sei.

Sehr gute Erfahrung mit den Avataren

Viel genutzt wird das System etwa bereits in Mainz. Dort hat der Förderverein für Tumor- und Leukämiekranke Kinder mittlerweile acht Avatare angeschafft. «Die Erfahrung mit den Avataren ist ausnahmslos sehr gut», sagt der Vorstand des Vereins, Kai Leimig. Die Patienten seien glücklich über ein Stück zurückgewonnene Normalität und vor allem darüber, sich nicht mehr ausgeschlossen zu fühlen. Darüber hinaus steige die Wahrscheinlichkeit für eine Versetzung, da nicht so viel Stoff verpasst werde. Schwierigkeiten bereite manchmal die Vorarbeit, etwa weil des Schul-W-Lan nicht gut genug ist oder es datenschutzrechtliche Bedenken gibt.

In Göttingen ist das Avatar-Projekt nicht das einzige Angebot der Elternhilfe. Ursprünglich wurde sie als Anlaufstelle für Eltern schwerkranker Kinder gegründet, die in der Universitätsmedizin stationär behandelt werden. Für die Erziehungsberechtigten bietet die Einrichtung mit dem Elternhaus eine Übernachtungsmöglichkeit in Sichtweite zu der Klinik. Manche Eltern nutzen das kostenlose Angebot bis zu einem Jahr lang.

«Wir wollen eine Insel sein»

Zudem gibt es einen Sozialfonds und es werden gemeinschaftliche Aktivitäten oder Gesprächsrunden angeboten, die auch Eltern nutzen können, die nicht im Elternhaus unterkommen. Alle Angebote sind kostenlos und werden hauptsächlich über Spenden finanziert sowie teilweise durch Zuwendungen vom Land oder Leistungen von Krankenkassen.

«Wir wollen eine Insel und ein Rückzugsort sein vom Krankenhaus – bei uns gibt es keine Kittel und bunte Wände», erklärt Geschäftsführerin Dagmar Hildebrandt-Linne. Gleichzeitig sei die Nähe zu ihren Kindern im Krankenhaus für viele Eltern beruhigend. In gewisser Weise wirkt das Elternhaus also ähnlich wie die Schulavatare, die ihrerseits dem kranken Kind und den Mitschülern Ruhe und Sicherheit geben.

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