Aargauerin erhält wegen starkem Übergewicht IV
Es ist eine Premiere: Eine Aargauerin erhält aufgrund ihres Übergewichts das Recht auf eine Invalidenrente.
Das Wichtigste in Kürze
- Eine adipöse Frau im Kanton Aargau hat das Recht auf eine Invalidenrente erhalten.
- Das höchste Gericht gibt mit diesem Entscheid seine bisherige Rechtsprechung auf.
- Die Arbeitsfähigkeit der 54-Jährigen ist um 80 Prozent eingeschränkt.
Der Entscheid des höchsten Gerichts ist historisch: Es hat für eine adipöse Frau im Kanton Aargau seine bisherige Rechtsprechung aufgegeben. Die 54-Jährige erhält wegen ihres schweren Übergewichts – und ihrer daraus resultierenden Arbeitsunfähigkeit – das Recht auf eine Invalidenrente.
Wie die «Aargau Zeitung» berichtet, bedeutet das die Revision eines Urteils des eidgenössischen Versicherungsgerichts aus dem Jahr 1983.
Wegen dessen galten Alkoholismus, Medikamentenmissbrauch und Drogensucht lange nicht als Ursache für Invalidität. Argumentiert wurde, dass Betroffene ihre Probleme selber lösen konnten – etwa durch Verzicht.
Die Fettleibigkeit galt ebenfalls zu diesen Süchten.
Doch nun erkennt das Bundesgericht an, dass diese Sichtweise nicht mehr zeitgemäss ist. Es gibt damit auch die Vorstellung auf, dass Betroffene in jedem Fall ihre Krankheit einfach mit ihrem Willen überwinden können.
Leiden sogar im Liegen
Eine grosse Erleichterung für die Aargauerin. Denn die Frau wiegt 150 Kilogramm und kann kaum mehr gehen. Sogar im Liegen leidet sie unter Schmerzen. Auch hatte ihr schweres Übergewicht zu einer Reihe miteinander verknüpfter Probleme geführt, die sich gegenseitig verstärkten.
Dies zeigt ein Gutachten: Darin steht, dass das viele Fett ihr Skelett verformt hat. Deswegen hat sie Rückenschmerzen und kann ihr Knie kaum bewegen.
Das wiederum führt zu kontinuierlichem Konditionsverlust. Dadurch fehlen ihr die Muskeln, die ihren Körper stabilisieren sollten. Ein Teufelskreis.
In dem Bemühen, diesen zu durchbrechen, absolvierte die Frau einen Muskelaufbau und ein Konditionstraining in der Rehaklinik Baden AG. Doch sie nahm nur zwei Kilo ab und konnte gerade mal 30 Meter weit gehen, bevor ihre Knie schmerzhaft anschwollen. Und das mit der Hilfe eines Rollators.
Kurze Zeit später nahm die 54-Jährige auch wieder stark zu.
Arbeitsfähigkeit um 80 Prozent eingeschränkt
Ihr darauf folgender Antrag bei der Invalidenversicherung (IV) wurde aber abgelehnt.
Zwar gab die Sachverständigung der adipösen Frau recht – ihre Arbeitsunfähigkeit sei um etwa 80 Prozent eingeschränkt. So wird Adipositas in drei Schweregrade eingeteilt, basierend auf dem Body-Mass-Index (BMI). Die Aargauerin hat einen BMI von 58, was weit über Grad 3 hinausgeht – dem schwersten Grad von Adipositas.
Aber die Sachverständigung berechnete ebenfalls eine theoretisch zumutbare Arbeitsfähigkeit, für den Fall, dass sie abnimmt. Auf Letzteres stütze sich das Aargauer Sozialversicherungsgericht.
Auswirkungen des Urteils
Das Urteil des Bundesgerichts macht dies wieder gut. Die IV ist nun verpflichtet, ihre Rente zu berechnen und dabei Adipositas als Ursache für ihre Arbeitsunfähigkeit anzuerkennen. Abgeklärt werden noch die zumutbaren Massnahmen und ein individuelles Therapiekonzept für die 54-Jährige.
Verbessern sollte sich somit auch die Aussicht anderer übergewichtiger Personen auf eine Rente. Auch für die, die weniger fettleibig sind. So sagt Erich Züblin, Versicherungsexperte und Anwalt der adipösen Frau: «Die Versicherungsmedizin muss jetzt auch in leichteren Fällen Gewichtsprobleme berücksichtigen, wenn sie einen Gesundheitszustand beurteilt.»