Apps versprechen Trauma-Heilung in zwei Monaten – Fachleute warnen
Werbebeiträge auf Instagram bieten Programme zur Heilung von Traumata und ADHS an. Ersetzen diese wirklich einen Psychotherapeuten?
Das Wichtigste in Kürze
- Auf Instagram kursieren Werbeangebote für Selbsthilfe bei Kindheits-Traumata.
- Firmen machen unrealistische Heilversprechen und unprofessionelle Diagnosen.
- Unter Psychiatern ist klar: Diese Angebote sind äusserst problematisch.
Schnell, unkompliziert und dringend nötig: Selbsthilfe-Apps werben auf Instagram aggressiv mit ihren Programmen.
Du «schiebst Aufgaben auf», «hast hohe Erwartungen an dich selbst» oder «wirst nicht gerne kritisiert»? Typische Anzeichen eines Kindheitstraumas, sagen «Liven», «BetterMe» oder «Breeze».
Das Versprechen: Mit ein paar Fragen findet man heraus, wie traumatisierend die Kindheit wirklich war. Du hast einen hohen Score erhalten? Keine Sorge! Dir wird sogleich ein Programm angeboten, das dir helfen soll.
In nur zwei Monaten wirst du dich von deinem traurigen, unmotivierten Selbst zu einer völlig neuen Persönlichkeit entwickeln: glücklich, optimistisch – geheilt. Und das Ganze ja auch nur für wenige Franken pro Monat!
Programme könnten zu einer Verschlechterung der mentalen Gesundheit führen
Zu Zeiten von völlig überlaufenen Psychotherapie-Praxen sind solche Angebote bestimmt verlockend. In Einzelfällen würden sie auch Orientierung und Informationen bieten, so Marco Tackenberg von der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie.
Aber: «Diese Apps ersetzen keine fundierte Diagnose oder Therapie durch eine Fachärztin oder einen Facharzt», warnt Tackenberg. Dafür brauche es eine Auswertung durch einen Experten oder eine Expertin.
Denn es müssen unter anderem Differentialdiagnosen ausgeschlossen werden. Darunter versteht man andere mögliche Erkrankungen mit gleichen Symptomen.
Ausserdem könne eine fehlerhafte Behandlung sogar zu einer Verschlechterung der Gesundheit führen, so Tackenberg. Insbesondere bei komplexen Störungen wie traumatischen Belastungen oder auch ADHS.
Unzureichende Selbstdiagnosen statt professioneller Hilfe
Auch die Vermarktung der Seiten auf Instagram sei äusserst problematisch und irreführend, warnt Tackenberg. Heilsversprechen, Rabatte und Erfahrungsberichte würden falsche Erwartungen wecken und den Eindruck einer schnellen Lösung vermitteln. «Sie vereinfachen die Komplexität der psychischen Erkrankungen und deren Behandlungen.»
Die Kommerzialisierung berge ausserdem die Gefahr, dass Betroffene professionelle Hilfe meiden. Stattdessen würden sie sich «auf unzureichende Selbstdiagnosen stützen».
Wertvoll seien daher viel mehr Initiativen wie «Wie geht's dir?» von der Stiftung Pro Mente Sana. Diese würden den Diskurs über psychische Gesundheit fördern, ohne dabei «Blickdiagnosen und unzureichende Behandlungen» zu versprechen, so Tackenberg.
«Es sollte nicht darum gehen, eine Erkrankung zu ‹heilen›»
Die Fachorganisation für psychische Gesundheit Pro Mente Sana äussert sich auf Anfrage von Nau.ch ebenfalls kritisch gegenüber Online-Angeboten und Apps mit Heilversprechen: «Auch wenn die vermittelten Tipps in solchen Apps aus dem Bereich der Verhaltenstherapie kommen, sollte es bei solchen Programmen nicht darum gehen, eine Erkrankung zu ‹heilen›.»
Stattdessen sollte der Fokus darauf liegen, einen besseren Umgang damit zu finden.
Es sei wichtig, dass die Teilnehmenden von einer Fachperson begleitet würden, die bei Fragen und Problemen zur Verfügung stehe. In der «Wie geht's dir?»-Kampagne weise man deshalb immer wieder darauf hin: Es soll Unterstützung bei einer Fachperson gesucht werden, wenn es einem nicht gut geht.
Das Angebot entspricht der Nachfrage auf Instagram
Die Realität ist: Diese Angebote auf Instagram sind nicht aus der Luft gegriffen. «Traumatische Erlebnisse in der Kindheit sind nicht selten», sagt Tackenberg.
Das Internet und die Sozialen Medien seien oft erste Anlaufstellen bei der Suche nach Informationen. Das zeigt sich auch in den Aufrufzahlen von Tiktoks über Symptome von ADHS oder anderen psychischen Störungen.
«Die Gefahr ist aber, dass die Inhalte sehr unterschiedliche Qualität haben», sagt Tackenberg. «Eine Studie kam zum Schluss, dass von den 100 meistgesehenen Tiktok-Darstellungen zu ADHS 50 Prozent irreführende Inhalte enthielten.» Für Nutzer sei es häufig schwer, seriöse von unseriösen Informationen zu unterscheiden.