Ärzte alarmiert: Kinder kriegen wegen Medi-Mangels zu starke Mittel
Verschreiben Kinderärzte Antibiotika, sind diese oft gar nicht vorhanden. Das führt zu Frust und Mehraufwand. Und fördert gefährliche Antibiotika-Resistenzen.
Das Wichtigste in Kürze
- Antibiotika und Schmerzmittel für Kinder sind schwer zu bekommen.
- Ärzte aus ganz Europa schlagen Alarm.
- Auch in der Schweiz ist der Mangel konkret: Kinderärzte kämpfen täglich damit.
Vor dem langen Osterwochenende war es in der Praxis von Kinderarzt Johannes Greisser in Aarberg BE «so weit»: «Wir haben Notfalldienst. Die letzten Antibiotikumflaschen sind weg und wir haben keine mehr! Wir können nur hoffen, dass es in irgendeiner Apotheke noch welche hat», schlug Greisser via Linkedin Alarm.
Die Lage ist seit Längerem angespannt. Viele der benötigten Antibiotikum-Flaschen seien quasi nicht vorhanden, erzählt der ärztliche Leiter und Geschäftsführer der Kinder- und Jugendpraxis Arche.
Das zieht einen grossen Mehraufwand für die Ärzte nach sich. Denn oft müssen sie in Zusammenarbeit mit den Apotheken nach Alternativen suchen. «In der Zeit, in der wir uns besser um die Kinder kümmern möchten und müssten», sagt Sabine Müller, Pharmakologin und Ärztin in der Kinderpraxis in Aarberg.
Auch die Eltern seien gefordert, so Johannes Greisser. So müssten sie für ein Antibiotikum oft in mehreren Apotheken anrufen. Oder sie müssten Tabletten – die für Kleinkinder eigentlich nicht geeignet seien – zerkleinern, damit diese die Mittel überhaupt schlucken können.
Gefahr der Antibiotika-Resistenzen wächst
Nicht nur in der Schweiz; europaweit fehlt es an Medikamenten für Kinder und Jugendliche. Johannes Greisser zeigt auf, was das für Konsequenzen mit sich zieht. «Es ist Tatsache, dass Kleinkinder mit zu starken Erwachsenenmedikamenten behandelt werden. Aufgrund der zu starken Wirkung dieser Antibiotika sind Resistenzentwicklungen zu befürchten.»
Auch Sabine Müller ist alarmiert deswegen: «Das Problem ist, dass die Folgen der Antibiotika-Resistenzen nicht direkt spürbar sind – besonders in der Kindermedizin, in der heilen Welt der Schweiz und in bildungsfernen Schichten.» Doch man brauche nur WHO und Resistenzen zu googeln, um das Ausmass der Problematik zu sehen, so Müller.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO bezeichnet die zunehmende Resistenz von Bakterien gegen Antibiotika als «globale Bedrohung». Nach Schätzungen der WHO sterben jedes Jahr 1,3 Millionen Menschen, weil Antibiotika bei ihren Infektionen nicht wirken.
«Monströse Pharmalobby» für Mangellage verantwortlich
Dass es in der Schweiz überhaupt zu einer solchen Mangellage kommen konnte, veranschauliche «die fatalerweise fehlende Pädiatrie-Lobby in der Politik versus die monströse Pharma-Lobby», sagt die Pharmakologin.
Die Versorgung mit essenziellen Medikamenten müsse gesetzlich geregelt werden, fordert Johannes Greisser. Und zwar müssten Schweizer Pharmafirmen einen Versorgungsauftrag zur Herstellung essenzieller Medikamente kriegen, und nicht nur zur Herstellung von Medikamenten, die maximalen Profit bringen, sagt er.
In Deutschland hatte Gesundheitsminister Karl Lauterbach erst Anfang April gestanden, dass die Deutschen es in der Arzneimittelversorgung «mit der Ökonomisierung übertrieben» hätten. Ein neues Gesetz soll die Versorgung mit Kinderarzneimitteln verbessern und die Lieferengpässe beheben.
Ende April haben Kinderärzte aus Deutschland, Frankreich, dem Südtirol, Österreich und der Schweiz in einem offenen Brief davor gewarnt, dass sich ein bisher «nicht vorstellbarer» Versorgungsmangel abzeichne. Die Engpässe würden dazu führen, dass Behandlungen nicht mehr kindergerecht und nach Therapierichtlinien erfolgen könnten.
Doch bis sich etwas ändert, müssen die Kinderärzte mit der Mangellage arbeiten. «Die gesunden, termingeborenen Kinder können nur heilfroh sein, dass sie pharmakologisch so viel aushalten», sagt Sabine Müller.