Coronavirus: Wie das Tessin erneut zum Sorgenkind wurde
Das Tessin meldete einst den ersten Schweizer Fall des Coronavirus überhaupt. Vom Sorgenkind zum Vorzeigekanton – nun wieder zum Covid-Hotspot. Wie geht das?
Das Wichtigste in Kürze
- Zu Beginn der Corona-Pandemie war das Tessin der am stärksten betroffene Schweizer Kanton.
- Über den Sommer hatten sich die Südschweizer dann zum Vorzeigekanton gemausert.
- Nun verzeichnet das Tessin erneut einen Rekord-Anstieg an Neuinfektionen.
- Experte Andreas Cerny erklärt, wie das passieren konnte.
Das Tessin war im Frühjahr der am stärksten vom Coronavirus betroffene Kanton der Schweiz. Ende September hingegen war die 7-Tage-Inzidenz nur im Kanton Uri tiefer als im Tessin. Damals meldete der Kanton noch lediglich 5,6 Ansteckungen pro 100'000 Einwohner.
Inzwischen hat sich die Lage im Süden der Schweiz allerdings wieder drastisch verändert. Gestern Mittwoch meldete das Tessin für die letzten 24 Stunden 482 Neuansteckungen mit dem Coronavirus. Das ist der höchste Wert seit Beginn der Pandemie im Frühling.
Doch weshalb hat sich die Corona-Situation des Sonnenkantons innert kürzester Zeit so sehr verschlechtert? Auf Anfrage von Nau.ch erklärt der Tessiner Virologe Andreas Cerny: «Dies ist auf die Lockerungsmassnahmen im Spätsommer zurückzuführen; mit Rückkehr aus den Ferien, Schulbeginn, Grossveranstaltungen und privaten und öffentlichen Anlässen.»
Coronavirus profitiert von kalter Jahreszeit
Cerny hatte bereits Anfang Oktober vor der kalten Jahreszeit gewarnt. Der Grund: Die Menschen versammeln sich im Herbst und Winter vermehrt in geschlossenen Räumen, wo das Virus leichter übertragbar ist als draussen. Bei den erneut hohen Fallzahlen «spielt das sicher auch eine gewisse Rolle», sagt der Virologe. Bei Kälte seien wir näher beieinander und es werde weniger gelüftet.
Im Oktober betonte Cerny bei Nau.ch, die Tessiner Bevölkerung nehme das Coronavirus besonders ernst. Die Bevölkerung im Südkanton verhalte sich generell vorsichtiger als der Rest der Schweiz – wegen der Nähe zu Italien. Die Lombardei war im Frühling besonders stark von der Pandemie betroffen.
Auch nun erkennt er einen Zusammenhang mit der Lage jenseits der Grenze. «Es gibt in allen Regionen der Schweiz einen mehr oder weniger parallelen Verlauf der Fallzahlen im Vergleich zum benachbarten Ausland. Das Virus kennt keine Landesgrenzen.»
Virologe: «Es wurde zu lang diskutiert»
Seit einigen Wochen wird immer wieder kritisiert, der Bundesrat und die Kantone hätten zu spät auf die steigenden Zahlen reagiert. Auch Cerny ist mit der Regierung diesbezüglich unzufrieden: «Die Kurve wäre nicht so steil angestiegen, wenn die Massnahmen auf Bundesebene zwei Wochen früher eingeführt worden wären», sagt er.
Kurz: «Es wurde zu lang hin- und herdiskutiert.» Auch die Tessiner Regierung habe seiner Meinung nach zu langsam und zu zögerlich reagiert.
All das schlägt sich nun in den Fallzahlen nieder: Als das Tessin gestern Mittwoch 482 Neuinfizierte meldete, berichtete es zudem über 309 Corona-bedingte Spitalaufenthalte. 27 Personen befanden sich auf der Intensivstation.
Andreas Cerny erklärt: «Im Moment ist der Druck auf die Notfallstationen und die Bettenstationen sehr hoch.» In den nächsten 1 bis 2 Wochen würde dieser noch stark zunehmen. Es seien aber bislang Reservekapazitäten vorhanden.
Zweite Welle soll deutlich länger dauern
Zum Höhepunkt im Frühjahr waren im Tessin 400 Personen Corona-bedingt hospitalisiert, rund 75 Personen befanden sich in Intensivpflege. Angesichts der aktuellen Fallzahlen stellt sich die Frage: Könnte die Situation mit dem Coronavirus erneut ein solches Ausmass erreichen?
Entwarnen kann Andreas Cerny nicht. Doch er sagt: «Wir hoffen, dass es nicht erneut zu dieser hohen Spitzenbelegung kommt. Die nächsten Tage und Wochen werden dies zeigen.»
Die Belastung für das Spitalpersonal werde jedenfalls sehr hoch sein – «ein Personalmangel droht». Denn: «Was schon jetzt absehbar ist, ist, dass die Welle deutlich länger dauern wird.» In der Folge werde es mehr Ausfälle durch Krankheiten und Stress geben.