Der lockere Jura wird zum Corona-Regelkanton
Der jüngste Kanton ist für viele Schweizer ein Unbekannter. Jetzt lässt der Jura in der Corona-Krise wegen seinen Massnahmen aufhorchen.
Das Wichtigste in Kürze
- Der Kanton Jura verzeichnet eine der höchsten Ansteckungsraten der Schweiz.
- Als erster Kanton verfügte der Jura eine Maskenpflicht beim Einkaufen.
- Auch sonst prescht der Kanton punkto Massnahmen-Verschärfung vor.
Der Jura ist in weiten Teilen zerklüftet, rau und ungestüm. Der jüngste Kanton der Schweiz ist isoliert, liegt hinter Bergen, in dicht bewaldeten Hügellandschaften. Nur knapp 74'000 Menschen leben dort. Auch die neue A16 hat ihren Kanton nicht wirklich näher an den Rest der Schweiz gebracht. Die Autobahn ist meist verwaist, Staus gibt es hier nicht.
Widerborstig sind auch seine Einwohner. Sie kämpften für ihren Kanton. Vor vier Jahrzehnten feierten sie den Sieg: Tausende Menschen versammelten sich in der jurassischen Hauptstadt Delémont auf der «Place de la Liberté», um die Geburt einer Nation zu feiern. «Bürgerinnen und Bürger, Sieg!», erklärte François Lachat, der Gründervater des Kantons in feierlichem Ton.
Seit 1979 eigener Kanton
Nach jahrzehntelangen Auseinandersetzungen, Verhandlungen und einem Referendum war der Jura von seinen 25 neuen Geschwistern als eigene Einheit akzeptiert worden. Am 1. Januar 1979 trennte er sich vom Kanton Bern und wurde zum jüngsten Kanton der schweizerischen Eidgenossenschaft.
Heute ist der Jura sprachlich isoliert und hat keine grossen Institutionen. Selbst in der Romandie kennt man den Jura nicht: In Lausanne, Genf oder im Wallis ist der Kanton nicht im Bewusstsein der Bevölkerung präsent.
Maskenpflicht und Gratis-Abgabe
In der Corona-Krise macht der Kanton Jura jetzt aber von sich reden. Als erster Kanton verfügte er eine Maskenpflicht beim Einkaufen. Seit dem 7. Juli müssen die Kunden in den Geschäften im Kanton Jura Schutzmasken tragen.
Das Maskenobligatorium gilt vorerst für zwei Monate und auch für Kinder ab zwölf Jahren. Ein Augenschein am ersten Tag der Maskenpflicht zeigte: Die Jurassier halten sich an das neue Obligatorium.
Auch bei der Gratis-Abgabe der Gesichtsmasken preschte der Jura vor. Alle 6'000 Personen, die Prämienverbilligung beziehen, erhalten gratis eine Schachtel Masken vom Kanton. Das sei nötig, um das Virus im Schach zu halten, sagt die jurassische SP-Regierungsrätin Nathalie Barthoulot, die auch die Sozialdirektorenkonferenz präsidiert. Der Preis könne Leute davon abhalten, Masken zu kaufen.
Als nächste Massnahme liebäugelt der Kanton Jura jetzt mit einer Maskenpflicht für die Schul-Oberstufe nach den Sommerferien.
Wieso wird der jüngste Kanton, der aus einem jahrzehntelangen Unabhängigkeitskampf entstand, nun plötzlich zum Corona-Regelkanton?
Pierre-André Comte (64), Generalsekretär der jurassischen Autonomiebewegung, hat dafür eine einfache Erklärung: «Der Kanton übt ganz einfach seine Souveränität aus. Man wartet nicht auf Entscheide des Bundes, sondern agiert unabhängig und souverän.» Der Kanton sehe es als erste Pflicht an, seine Bewohner zu schützen. In diesem Fall vor dem Coronavirus.
Corona und nahes Frankreich
Der Grenzkanton Jura hat proportional zur Bevölkerungszahl in den letzten Wochen eine der höchsten Corona-Ansteckungsraten der Schweiz. Auch dafür hat Comte eine Erklärung: «Der Kanton Jura war zu Beginn der Corona-Pandemie am anfälligsten. Das französische Mulhouse liegt schliesslich nur 40 Kilometer weg.»
Kantonsarzt Christian Lanz bestätigt, dass die Corona-Infektionen im Jura jüngst angestiegen sind. Die Rückverfolgung habe aber ergeben, dass die neusten Fälle nicht aus Frankreich importiert wurden. «Die Infektionen fanden wegen Nichtbeachtung der Distanzregeln im privaten Umfeld oder bei der Arbeit statt», so der jurassische Kantonsarzt.
Was viele über den Jura nicht wissen: Die Region war schon früher Pionierin: Im 19. Jahrhundert war sie für einige Jahre das europäische Zentrum der anarchistischen Bewegung in Europa. Auch die Idee zum Schweizer Frauenstreik von 1991 stammte von einigen Uhrenarbeiterinnen aus dem Vallée de Joux, die damit auf ihre mageren Löhne aufmerksam machen wollten.