Bern: Erwachsene Grüsel machen gezielt 14-Jährige an
Das Wichtigste in Kürze
- Zwei minderjährige Bernerinnen werden von über 30-jährigen Männern verbal belästigt.
- Es gibt Hinweise darauf, dass sogenanntes Catcalling, also anzügliches Nachrufen, zunimmt.
- Ein Experte befürchtet, dass Junge angesprochen werden, weil sie sich weniger wehren.
Leonie K.* (25) ist nach einem Shopping-Tag in Bern mit ihrer 16-jährigen Schwester und ihrer 14-jährigen Cousine stinksauer. «Wir wurden von mehreren Ü30-jährigen Männern angebaggert», sagt sie.
Mitten in der Stadt werden die drei von einem Typen angesprochen, der in einer Gruppe unterwegs ist. «Er nannte im Vorbeigehen gezielt meine Cousine ‹schöne Frau›, dabei sieht man von weitem, dass sie noch ein Kind ist. So ein Grüsel!»
Als die drei später in einen BLS-Zug einsteigen, setzt sich eine andere Gruppe ins Viererabteil neben sie. Die Männer starren immer wieder zu ihnen rüber. «Sie redeten offensichtlich über uns.»
Was sie dabei sagen, verstehen die Mädchen nicht, weil die Gruppe nicht Deutsch spricht. Als die Mädchen aussteigen, machen die Männer durchs Fenster Grimassen und anzügliche Gesten.
«Wurde nicht mehr gecatcalled, seit ich volljährig bin»
Was K. besonders sauer aufstösst: «Ich habe die Vermutung, dass wir gezielt herausgesucht wurden, weil die Männer dachten, wir seien alle Teenager.» Die 25-Jährige glaubt, die Rüpel hätten vor Mädchen weniger Respekt als vor erwachsenen Frauen. «Wahrscheinlich machen sie das gezielt, weil Jugendliche noch weniger wagen, sich zu wehren.»
Die junge Bernerin ist nicht die einzige, die solche Erfahrungen macht. Auf Tiktok und Co. ärgern sich viele Frauen darüber, dass ihnen nie so oft nachgepfiffen wurde wie als Teenies.
«Stimmt einfach», meint eine Nutzerin zum Beispiel zu einem Video, in dem eine Frau diese Beobachtung teilt. «Ich wurde nicht mehr gecatcalled (Deutsch etwa: anzügliches Nachrufen), seit ich volljährig bin», meint eine andere. Das Video hat fast 1200 Kommentare – viele davon stimmen zu.
Zahlen zeigen: Täter meist erwachsen, Opfer oft jung
Tatsächlich: Beim städtischen Meldetool «Bern schaut hin» kommen 40 Prozent der Meldungen über sexuelle Belästigung von unter 25-Jährigen. Zwanzig Personen davon, also drei Prozent, sind sogar jünger als 16 Jahre. «Die Belästigungen gingen grösstenteils von erwachsenen Männern aus», bestätigt Sprecher Sebastian Meier.
Damit die Belästigung erfasst wird, muss sie aber auch gemeldet oder angezeigt werden. Das geschieht natürlich nicht immer – deshalb fehlen exakte Zahlen. Bekannt ist laut der Polizei aber, dass es im Jahr 2022 im Kanton Bern 152 Anzeigen wegen sexueller Belästigung gab. In der Stadt selbst waren es 38.
«Fälle verbaler sexueller Belästigung kommen leider vereinzelt vor», heisst es auch bei der Bahnbetreiberin BLS (Bern-Lötschberg-Simplon) auf Anfrage.
2019 wurden Frauen und Teenagerinnen ab 16 Jahren zu ihren Erfahrungen mit sexueller Belästigung befragt. Die Studie des Berner Instituts GFS kommt zum Ergebnis, dass sich 56 Prozent sexuell suggestive Kommentare oder Witze anhören mussten. 54 Prozent erlebten unangemessenes Anstarren, das einschüchterte. Je 50 Prozent erlebten aufdringliche Kommentare über ihre körperliche Erscheinung oder unangemessene Avancen.
Belästigung nimmt wohl zu
Auch, wenn verlässliche Daten fehlen, kann sich Kriminologe Dirk Baier gut vorstellen, dass eher junge Frauen so angesprochen werden. «Sie sind noch unsicherer und können sich weniger wehren», sagt auch er.
Für ihn ist klar, dass bei der Geschichte drei Themen zusammenkommen: «Erstens das Thema der ‹toxischen Männlichkeit›, wie sie beispielhaft von Andrew Tate vorgelebt wird. Dabei geht es unter anderem darum, offensiv auf Frauen zuzugehen, hartnäckig zu sein, sich auch gegen ihren Willen durchzusetzen.»
Wurden Sie schon einmal gecatcalled?
Das zweite Thema sei Catcalling. «In letzter Zeit gibt es Hinweise, dass dieses Verhalten verstärkt von Männern gezeigt wird.» Für die Schweiz gebe es aber keine Daten. Das dritte Thema sei das Oberthema der sexuellen Belästigung: «Hier haben wir Hinweise auf ansteigende, der Polizei gemeldete Straftaten.»
Männer wollen Freunden Männlichkeit beweisen
Über die Motive für verbale Belästigung ist nur recht wenig bekannt, wie Befragungsstudien zeigen. «Teilweise dürfte es sich um unbeholfene, unsensible Versuche der Kontaktaufnahme handeln. Teilweise geht es darum, vor seinen Freunden seine Männlichkeit zu beweisen», erklärt Baier.
In einigen Fällen vermutet der Kriminologe auch eine sexistische Einstellung als Grund für das Verhalten. «Einige Männer glauben, dass Frauen weniger wert sind und Männer über sie bestimmen können.»
Erst kürzlich wurde in Bern eine junge Pendlerin von einem Mann verbal attackiert, weil sie nicht mit ihm reden wollte. Die Kantonspolizei Bern sagte dazu, dass sie solche Meldungen nicht oft erhalte.
*Namen von der Redaktion geändert